Qualifiziert und arbeitslos

8. April 2017, 21:58

Verrückte Welt: Eine Linke warnt vor dem Verrat an der amerikanischen Idee und vor einer Art autoaggressiver Krankheit des Kapitalistischen Systems. Barbara Ehrenreich, Under-Cover-Reporterin, Feministin und Sozialkritikerin beobachtet, wie das amerikanische Modell sich immer weiter zur Mogelpackung entwickelt: Der Aufstieg von immer weniger Menschen wird durch den Abstieg einer immer größeren Zahl ermöglicht.

Das Phänomen Abwärtsmobilität

Ehrenreichs erste Reportage auf der Basis eines 3-monatigen Selbstversuchs hieß "Arbeit poor“. Darin untersuchte sie, wie die Behauptung, Arbeit ermögliche das Überleben, zum Mythos wurde. Der Abstieg der Mittelschicht ist das Thema ihres aktuellen Buchs mit dem Titel "Qualifiziert und arbeitslos“.

Seit "Arbeit poor“ erschienen ist, habe ich so viele Briefe von Leuten erhalten, die in Armut und von Niedrigstlöhnen leben müssen oder furchtbaren Problemen gegenüberstehen. Es fiel mir auf, dass unter den Absendern viele mit Universitätsabschluss waren. Leute, die einen gut bezahlten Bürojob hatten - bis sie entlassen wurden, wegen Restrukturierung oder Reorganisation. Ich erinnere mich an eine Frau, eine Chemikerin, die mit mir über ihre Zeit im Obdachlosenasyl sprechen wollte. Damals wurde mir klar: Um etwas über die Armut in Amerika zu verstehen, musste ich mich näher mit der Abwärtsmobilität auseinandersetzen.

Aussichtsloser Bewerbungs-Marathon

Nach Ehrenreichs Recherchen sind etwa 20 Prozent der Arbeitslosen in Amerika ehemalige mittlere und höhere Angestellte. Grund dafür ist die "hire and fire" Strategie der Konzerne. Eine Führungskraft kann damit rechnen, zehn Mal im Leben die Stelle zu wechseln. Zwischendurch kommt es zu Zeiten der Arbeitslosigkeit.

Die preisgekrönte Essayistin begab sich für ihr zweites Under-Cover-Sachbuch in die Welt entlassener Führungskräfte - auf der fingierten Suche nach einem angemessenen Job. Nach neun Monaten Bewerbungs-Marathon hatte Barbara Alexander, so das Pseudonym der Autorin, nicht einmal eine entfernte Aussicht auf eine Position im mittleren oder gehobenen Management.

Irrationale Unternehmensstrategien

Ehrenreich beschreibt die stille Verzweiflung derer, die alles richtig gemacht haben - nie eine Ausbildung abgebrochen, immer Leistung, Fleiß und Loyalität gezeigt - und trotzdem vor dem Aus stehen.

Am Ende ihrer Zeit als arbeitssuchende Führungskraft kommt Barbara Ehrenreich zu dem Ergebnis, dass die westliche Spielart des Kapitalismus, der seine Gewinne derzeit vor allem durch das Senken der Arbeitskosten erzielt, dabei ist, die Leistungsgesellschaft zu zerstören. Die Regeln, nach denen das amerikanische Wirtschaftssystem funktioniere, seien irrational, sagt die promovierte Naturwissenschaftlerin.

Ich denke, das Problem liegt darin, dass wir eine Geschäftskultur haben, die weder an Erfahrung interessiert ist, noch an Sachkenntnis und noch nicht mal an großen Leistungen. Eine bizarre Entwicklung: Ich treffe immer wieder Leute, die mir erzählen, dass sie kurz vor ihrer Entlassung befördert worden waren oder eine Gratifikation erhalten hatten. Das ergab erst mal keinen Sinn für mich. Bis ich jemanden traf, der mir erklärte: Je mehr Leistung einer zeigt, desto mehr verdient er. Also ist er auch ein guter Posten, wenn es ums Sparen geht.

Europäischer Zukunftsthriller?

Ehrenreichs aktuelles Buch handelt von der verzweifelten Jobsuche einstiger amerikanischer Mittelständler und thematisiert deren Weg in die Armutsfalle. Die kirchlichen Seelenfischer, die Unerreichbarkeit einer Kranken- versicherung für Menschen ohne Arbeit sind amerikanische Besonderheiten. Und auch wenn hierzulande nicht 20, sondern erst um die sechs Prozent Akademiker ohne festen Job sind - viele arbeiten prekär, auf Projektbasis oder mit Zeitvertrag. Insofern liest sich die deutsche Übersetzung des neuesten Ehrenreich-Reports wie ein spannender Zukunftsthriller.