Stadtporträt Beirut

Die Psychogeografie des Krieges

Nichts ist mehr zu sehen von den Rissen und Brüchen, die 16 Jahre Bürgerkrieg der libanesischen Hauptstadt zugefügt haben. Die Regierung Hariri setzte auf Übertünchung - nun erobert die Bevölkerung die Stadt als Raum des Politischen zurück.

Auf dem Platz der Märtyrer

Viel ist nicht mehr zu sehen von den Rissen und Brüchen, die 16 Jahre Bürgerkrieg in der libanesischen Hauptstadt Beirut hinterlassen haben.

Weder im französischen Viertel der "Mandatszeit Etoile“, noch im Geschäftszentrum in der Innenstadt oder an den bürgerlichen Häuserzeilen entlang der ehemaligen Demarkationslinie ist auch nur ein Hauch der gewalttätigen Auseinandersetzung der Vergangenheit zu spüren. Die neuen, glatt frisierten Fassaden haben jedwede Erinnerung abgeschüttelt und widersetzen sich mit strahlendem Lächeln jeder Konfrontation.

Übertünchte Geschichte

Treibende Kraft hinter dem geschichtslosen Neuanstrich des Beiruter Stadtkerns ist die Grundstücks- und Immobiliengesellschaft Solidere, eine der vielen Firmen des ehemaligen Ministerpräsidenten Rafik Hariri, der im vergangenen Jahr ermordet wurde.

Solidere hat den Wiederaufbau des Stadtzentrums nahezu im Alleingang entwickelt und im Auftrag Hariris auch durchgeführt. Daran konnte auch der empörte Aufschrei von Presse und Intellektuellen nichts ändern. Die Vergangenheit sollte ein- für allemal begraben werden und Platz machen für eine neue, zukunftsweisende Nahost-Metropole, die Aufbruchstimmung und Optimismus signalisiert. Und so wandert der ausländische Besucher heute weitgehend unbedarft und ahnungslos auf den Ruinen des erbitterten Kampfes, der die Politik und Gesellschaft des Libanon bis heute prägt.

Fortdauernde Segregation

Die jahrzehntelangen Kampfhandlungen haben nicht nur die physische Infrastruktur, sondern vor allem auch das Herz der Stadt, das dicht gewebte Netz sozialer und kultureller Beziehungen, nahezu restlos zerstört.

Die Demarkationslinie, die Beirut in einen christlichen und einen muslimischen Teil trennte, setzte sich nahtlos fort in den einzelnen Wohnvierteln. Nahezu alle Stadtteile existieren heute nebeneinander, streng nach Religionszugehörigkeit getrennt. Ein reger Austausch zwischen den mehr als 18 verschiedenen Konfessionsgruppen, wie noch vor 1975, findet kaum statt. Es wird noch Jahre dauern, bis die psychologischen Schranken des Krieges überwunden sind.

Mentale Rückzugsgeografie

Es sind nicht so sehr politische Ressentiments, es ist vielmehr die Geografie der Angst, die das Zusammenwachsen dieser zutiefst fragmentierten Gesellschaft so schwierig macht. "Wenn du jeden Tag damit rechnen musst, durch eine Gewehrkugel oder eine Autobombe zu sterben", erzählt der Multimedia-Künstler Walid Rad, "beginnst du zwangsläufig, deinen Lebensrhythmus und dein Verhalten darauf einzustellen".

Die Angst vor gegnerischen Angriffen hat dazu geführt, dass sich die Menschen mehr und mehr in ihre Wohnviertel zurückzogen und benachbarte Bezirke oder besonders gefährliche Zonen, wie das historische Zentrum, fast vollkommen aus ihrer Vorstellung und ihrem Bild von der Stadt gestrichen haben.

Schrittweise Annäherung

Erst langsam beginnt sich die Psychogeografie des Krieges aufzulösen, wird ein sozialer Austausch über die Grenzen einzelner Bezirke hinweg wieder möglich und vor allem vorstellbar. Einen eindrucksvollen Beleg für das schrittweise Zusammenwachsen der Bevölkerung lieferte die massive Protestwelle, die die Ermordung Rafik Hariris 2005 ausgelöst hat. Christen und Muslime strömten auf den geschichtsträchtigen Platz der Märtyrer, um gemeinsam für Souveränität und Selbstbestimmung und gegen die syrische Fremdherrschaft zu demonstrieren. Dieser unerwartete Ausbruch von Wut und Trauer, sagt der Stadtsoziologe Samir Khalaf, markiert einen entscheidenden Wendepunkt in der Geschichte Beiruts und seiner Bewohner.

Rückeroberung des politischen Stadtraums

Nach Jahren des Misstrauens und des totalen Rückzugs in die Privatsphäre hat sich die Bevölkerung den Stadtraum zurückerobert, und das historische Zentrum Beiruts wieder zum Ort der Begegnung und zum Forum für politische Ansprüche und Visionen gemacht.

Die modernen Glasfassaden, die das Stadtzentrum bis dahin allein für sich beanspruchen konnte, mögen dabei den einen oder andern Kratzer abbekommen haben. Doch das ist auch gut so, sagt Samir Khalaf. Denn damit verliert die konstruierte Fassade, die Immobilien- und Grundstücksentwickler der Stadt bis vor kurzem aufgezwungen haben, endlich ihren künstlichen Lack.

Hör-Tipp
Diagonal, Samstag, 17. März 2007, 17:05 Uhr

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