Im Gespräch: Peter Bieri alias Pascal Mercier
Die Kartografie des Denkens
"Es ist, wie wenn man sich in einer verwinkelten Stadt, wo man keine Übersicht über die Gassen hat und sich leicht verirren könnte, einen Stadtplan zeichnet, um die Orientierung zu gewinnen", sagte Peter Bieri im Jahr 2006 in seinem letzten Interview für die Ö1 Reihe "Im Gespräch".
8. April 2017, 21:58
Als er seinen ersten Roman, "Perlmanns Schweigen", veröffentlichte, wählte Peter Bieri das Pseudonym Pascal Mercier. Er wusste nicht, wie das Buch aufgenommen würde, und als Professor einer deutschen Universität wollte er sich schützen. Später, als auch seine weiteren Romane ein Erfolg wurden, behielt er den zweiten Namen, um seine beiden Existenzen für sich selbst besser zu trennen.
Doris Stoisser: Im Prolog zu Ihrem Buch "Das Handwerk der Freiheit" schreiben Sie: "Man lebt nicht gut mit dem Gefühl, gerade über die wichtigsten Dinge keine Klarheit zu besitzen. Das ist der Grund, warum es Philosophie gibt." Kann Philosophie wirklich Klarheit schaffen?
Peter Bieri: Sie kann Klarheit schaffen. Sie ist der Versuch, über die wichtigsten Themen, die einen Menschen beschäftigen können, Klarheit zu geben, indem man über die Art und Weise, wie man darüber redet und wie man darüber nachdenkt, sich orientiert. Es ist wie wenn man sich in einer verwinkelten Stadt, wo man keine Übersicht über die Gassen hat, einen Stadtplan zeichnet, um die Übersicht zu gewinnen. Die Philosophen sind in gewissem Sinne die Kartographen des Denkens: Wie hängen Geist und Körper zusammen? Was ist der Umfang unseres Wissens? Wie kommt Bedeutung in die Welt? Was ist der moralische Standpunkt? Was für ein Verhältnis zum Tod kann man haben? Undsoweiter.
Es ist sehr verwirrend, was man über diese Dinge hören und denken kann. Die Philosophen sind diejenigen, die versuchen diese Dinge ruhig, systematisch, mit Übersicht darzustellen. Das bedeutet dann Klarheit.
Ist Langsamkeit, Bedächtigkeit eine Qualität, die wichtig ist?
Die ist ganz wichtig! Philosophie ist naturgemäß eine sehr langsame Beschäftigung, weil sie der Versuch ist, sich in unserer Gedankenwelt zu orientieren. Das bedeutet, dass man sich mit komplizierten - zum Teil sehr abstrakten - Überlegungen beschäftigen muss. Und es gibt eine Vielfalt von Beziehungen zwischen den verschiedenen Gedanken dabei. Und diese Vielfalt, die kann man sich nur vergegenwärtigen, wenn man es ganz langsam tut. Deshalb ist die Philosophie immer der Feind von allem Aktualitätswahn gewesen, der Feind von aller Hektik, der Feind von aller Oberflächlichkeit, und von allem Blendertum. Die Philosophie ist tatsächlich essentiell ein langsames Unterfangen.
Im eingangs zitierten Satz ist die Rede von den wichtigsten Dingen. Was sind die wichtigsten Dinge?
Das vielleicht Wichtigste, das die Philosophie immer beschäftigt hat, ist die große, zunächst plakativ wirkende Frage: Wie sollen, wie wollen wir eigentlich leben. Und dazu gehört natürlich die Frage: Was ist richtig, und was ist falsch. Diese Frage hat eine besondere Dringlichkeit, wenn dieses Richtig und Falsch "moralisch richtig oder falsch" heißt. Was auch immer die Philosophie tut, hängt mehr oder weniger mit der Frage zusammen: Was ist das moralisch richtig verfasste Leben? Und dazu kommt die Frage: Was ist die richtige Art und Weise zu leben, dass aus diesem Leben ein glückliches oder gelingendes Leben wird.
Hör-Tipp
Im Gespräch, Donnerstag, 9. März 2006, 21:01 Uhr
Mehr dazu in Ö1 Programm
Download-Tipp
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Buch-Tipp
Pascal Mercier: "Nachtzug nach Lissabon", Btb, ISBN 3442734363
CD-Tipp
"Im Gespräch Vol. 7", ORF-CD, erhältlich im ORF Shop