Die Nebensächlichkeit als Erzählprinzip

Die Brooklyn Revue

Paul Auster erzählt in seiner "Brooklyn Revue" die seltsam verschwimmenden Geschichten einer Hand voll New Yorker am Vorabend des 11. Septembers. Ein stilistisch brillanter Roman voll absurder Wendungen, Zufälle und Koinzidenzen.

Normalerweise sollte man das nicht tun, aber wir machen hier eine Ausnahme und beginnen diese Rezension mit den letzten Sätzen des Buches:

Es war acht Uhr, als ich auf die Straße trat, acht Uhr am Morgen des 11. September 2001 - sechsundvierzig Minuten, bevor das erste Flugzeug in den Nordturm des World Trade Center raste. Nur zwei Stunden später trieb der Rauch von dreitausend verbrannten Leibern auf Brooklyn zu, regnete als weiße Wolke aus Asche und Tod auf uns hernieder. Aber noch war es erst acht Uhr, und als ich unter dem strahlend blauen Himmel die Straße entlang spazierte, war ich glücklich, mein Freund, so glücklich wie nur je ein Mensch auf diesen Erden.

Die Gefahr, die hinter jeder Ecke lauert

Es war nur eine Frage der Zeit, bis der große New York Chronist Paul Auster sich des großen New Yorker Themas der letzten Jahre - des 11. Septembers - annehmen würde. Und er tat es, wie man es von ihm erwartet konnte: in einem halben Absatz. Alles ist wie immer - und bumm, plötzlich ist nichts mehr, wie es vorher war. Man kennt diese Wendungen; sie sind Austers Trademark. Im Grunde genommen hat er noch nie über etwas anderes geschrieben, als über die Gefahr, die hinter jeder Ecke lauert. Einmal nach links statt nach rechts abbiegen, und schon passieren die seltsamsten Dinge. Aber eben weil Auster nie über etwas anderes als über Kleinigkeiten schreibt, die etwas Großes auslösen, wirkt der Einbruch von etwas so Großem in den allerletzten Zeilen des Romans ein wenig gekünstelt.

Auf 350 Seiten scheinen sich Austers altbewährte Erzählprinzipien verselbständigt zu haben, um dann doch, endlich, dem großen Ereignis zu weichen. So fliegen nach einer Geschichte, die vor absurden Wendungen, Zufällen und Koinzidenzen zu zerbersten droht, noch schnell zwei Flugzeuge in das World Trade Center. Hätten wir das auch erledigt. Der Terroranschlag hat eine ähnlich lapidare Wirkung wie 50 Dosen Cola, die in den Tank eines Autos gefüllt werden, oder ein neunjähriges Mädchen, das nicht sprechen will.

Zufälle und absurde Wendungen

Wie schnell sich die Welt um uns ändert; wie schnell ein Problem ein anderes ersetzt sodass wir uns kaum in unseren Siegen sonnen können.

Immer und immer wieder peitscht der Zufall die Geschichten in eine neue Richtung. So viele absurde Wendungen wie in diesem Buch fand man selbst bei Auster kaum je zuvor. Nicht nur ein seltsam verschwimmendes Leben beschreibt der Autor; nein gleich drei. Da ist einmal Nathan Glas, der zum Sterben nach Brooklyn gekommen ist - was eigentlich nebensächlich ist. Er schreibt an einem Buch, in dem er - ähnlich Flaubert in "Bouvard und Pécuchet“ - die Dummheiten der Menschen katalogisieren will - ebenfalls unwichtig. Er ist in eine Kellnerin verliebt, die verheiratet ist - nicht weiter von Bedeutung...

Postmoderne Verästelungen

Was aber steht denn nun im Zentrum des Romans? Das Leben von Tom, Nathans Neffen, der in einem Buchgeschäft arbeitet und sich als Versager fühlt? Oder das seines Chefs Harry Brightman, der sich eine schillernde Identität konstruiert, um zu verschleiern, dass er wegen Kunstfälschung im Gefängnis saß? Oder doch das des neunjährigen Mädchens, das nicht sprechen will? Stilistisch brillant definiert Auster die Lebenswege all dieser Menschen bis ins letzte Detail. Keine Verästelung vergisst er.

Nun kann man selbstverständlich das Schlagwort „Postmoderne“ anführen, mit allem, was es verspricht: Ende der Erzählung, Nivellierung der Wertigkeiten und Handlungsstrukturen. Man kennt das. Doch wird die Folge lapidarer Begebenheiten hier bis zur Parodie beschleunigt und ausgereizt. Nur nichts auslassen. So viele Nichtigkeiten geschehen in diesem Buch, dass man das Gefühl für die Handlung verliert: "Rasender Stillstand“.

Warum verweile ich so lange bei diesen banalen Einzelheiten?

Das fragt sich der Erzähler Nathan. Der Leser kann sich dieser Frage mitunter nur anschließen. Selten zuvor passte das Sprichwort, dass weniger mehr sei, so treffend auf ein Buch wie auf die "Brooklyn Revue“.

Hör-Tipp
Ex libris, Sonntag, 5. März, 18:15 Uhr

Mehr dazu in Ö1 Programm

Download-Tipp
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Buch-Tipp
Paul Auster, "Die Brooklyn Revue", aus dem Amerikanischen übersetzt von Werner Schmitz, Rowohlt Verlag, ISBN 3498000667