Keine Träume mehr

Leyla

In seinem neuen Buch zeichnet Feridun Zaimoglu ein beeindruckendes Panorama vom Leben in Anatolien. Als Hauptperson hat er eine Frau gewählt, eben Leyla, weil Frauen "ein anderes Vokabular, eine andere Sicht" haben, wie er sagt.

"Endlich bist du da, dem Herrn sei Dank", ruft mein Mann. "Ja", sage ich, und umfasse fest den Koffergriff. Ich will dieses Land lieben. Ich werde den Wolf streicheln, und vielleicht wird er die Hand nicht beißen, die ihm über das Rückenfell fährt.

Erste Worte einer Türkin aus Anatolien, die eben am Münchner Hauptbahnhof angekommen ist: Leyla, fremd überall, ein Eindringling auf den Schauplätzen des Lebens. Leyla ist die Hauptfigur im neuen, gleichnamigen Roman des türkisch-stämmigen, in Deutschland aufgewachsenen Kolumnisten, Dramaturgen, Filmemachers und Schriftstellers Feridun Zaimoglu.

Nur ein Mädchen

Feridun Zaimoglu lässt die heranwachsende Leyla, die Jüngste einer siebenköpfigen Familie, vom gleichgültigen Schicksal in einer Kleinstadt im Osten der Türkei erzählen. Einer Weltgegend, in der der Hunger schmerzt, und aus der man flüchtet, wenn man kann. Auf der Suche nach dem Glück spähen schon die Augen der 14-Jährigen weit in die Nacht. Sie ist nicht schlau, sie ist nicht dumm, sie ist ein Mädchen - in der anatolischen Provinz unterscheidet sich ihr Status damit nicht sehr von dem einer Ziege im Stall.

"Du bist was?" werde ich von meiner Schwester Yasmin gefragt. "Wie eine stumme Wand", sage ich. "Wirst du deinen Mund aufmachen, ohne dass er dir eine Frage stellt?" "Nein", sage ich, "niemals". "Und deine Augen, sie machen was?" "Nichts", sage ich. "Ich darf ihn nicht anschauen. Ich blicke ihm nicht in die Augen. Nie."

Waisenkind des Glücks

Er, der berüchtigte Halid Bey, der Familientyrann und Leylas Vater verliert seine Anstellung als Eisenbahner und schlägt sich mit immer dubioseren Geschäften durch. Die Söhne, der Erstgeborene und Frauenliebling Djengis und der phantasiebegabte, sensible Tolga, versuchen gegen den Vater zu rebellieren. Doch die Tradition ist stärker.

Als sich die Familie bei einer Großtante in Istanbul einnistet, eröffnen sich neue Perspektiven. Leyla lernt einen Studenten kennen, den man "den Schönen" nennt, und verliebt sich. Sie heiratet gegen den Widerstand des Vaters - und bleibt doch ein Waisenkind des Glücks. Sie bekommt einen Sohn, wird wieder schwanger und fällt bei einer von ihrem Mann erzwungenen Abtreibung einem Kurpfuscher in die Hände. Ihr Gatte zeigt sich derweil gern in Gesellschaft anderer Damen. Zuletzt landet er in Berlin, als Akkordarbeiter. Leyla wartet ab. Und stürmt voran, als "die Seele ihres Vaters endlich fortgeweht ist".

Feridun Zaimoglu zeichnet ein beeindruckendes Panorama vom Leben in Anatolien. Seine orientalische Familiensaga trifft mitten ins Herz.

"Das Buch der Woche" ist eine Aktion von Ö1 und Die Presse.

Hör-Tipps
Kulturjournal, Freitag, 24. Februar 2006, 16:30 Uhr

Ex libris, Sonntag, 26. Februar 2006, 18:15 Uhr

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