Alexander von Humboldt und Carl Friedrich Gauß
Die Vermessung der Welt
Daniel Kehlmanns Roman ist die Neubelebung eines Genres: zum einen historischer Roman, zum anderen frei erfundene Abenteuergeschichte und schrulliges Sittenbild. Die Helden heißen hier aber nicht Crusoe und Freitag, sondern Humboldt und Gauß.
8. April 2017, 21:58
Der traut sich was, der Kehlmann. Nach seinem Bestseller "Ich und Kaminski" legt er jetzt einen wissenschaftlich-philosophischen Abenteuerroman vor. Gewagt ist dieses Unterfangen auch deshalb, weil sich viele Leser wahrscheinlich Spannenderes vorstellen können, als zwei deutsche Wissenschaftler des 18. Jahrhunderts bei ihren Forschungen zu begleiten. Die große Kehlmann'sche Leistung liegt nun darin, diesen sagen wir mal sehr speziellen Stoff zu etwas Lebendigem umzuformen.
Ziemlich verschrobene Zeitgenossen
Kehlmann beschreibt distanziert und knapp wie ein Historiker und vermeidet ausschweifende Darstellungen und Schilderungen; durch die frei erfundenen Dialoge und Alltagssituationen entspinnt sich jedoch etwas Unmittelbares und Schrullig-Komisches. Die schablonenhaften Geschichtsbuch-Genies werden zu menschlichen Wesen - von ihren Leidenschaften besessene, extrem intelligente und im richtigen Leben ziemlich verschrobene Zeitgenossen.
Nach einigen Stunden entdeckte Humboldt, dass sich Flöhe in die Haut seiner Zehen gegraben hatten. (...) Pulex penetrans, der gewöhnliche Sandfloh. Er werde ihn beschreiben, aber nicht einmal im Tagebuch werde er andeuten, dass er selbst befallen worden sei.
Daran sei doch nichts Schlimmes, sagt Bonpland.
Er habe, sagte Humboldt, viel über die Regeln des Ruhms nachgedacht. Einen Mann, von dem bekannt sei, dass unter seinen Zehennägeln Flöhe gelebt hätten, nehme keiner mehr ernst. Ganz gleich, was er sonst geleistet habe.
Konträre Charaktere
Eine reizvolle Spannung des Textes ergibt sich durch die völlig konträre charakterliche Disposition der beiden Hauptfiguren. Gauß und Humboldt unterscheidet nicht nur ihre Persönlichkeit, sondern auch ihre Herangehensweise an die Wissenschaft. Während der Naturforscher Humboldt die Welt bereist und mit Akribie den gesamten Kosmos zu erobern und zu vermessen sucht, sitzt der Mathematiker Gauß zu Hause im heimischen Göttingen und denkt einfach nur nach.
Mit der Verwendung der indirekten Rede hat der Autor das ideale Instrument gefunden, um historische Sachverhalte zu schildern, ohne einen Anspruch auf Authentizität zu erheben. Schnell hat man sich als Leser daran gewöhnt, dass in allen noch so pointierten Situationen der Konjunktiv die Präsenz eines ironischen Erzählers verdeutlicht.
Aber es lohne sich, wiederholte Bessel immer wieder.
Das Meer müsse man doch gesehen haben.
Müsse man? Gauß fragte, wo das geschrieben stehe.
Der Strand war verdreckt, und auch das Wasser ließ zu wünschen übrig. Der Horizont schien eng, der Himmel niedrig, das Meer wie eine Suppe unter schmutzigem Nebel. Kalter Wind wehte. In der Nähe verbrannte etwas, und der Rauch machte das Atmen schwer. Auf den Wellen hob und senkte sich ein kopfloser Hühnerkörper.
Ja, Gut. Gauß blinzelte in den Dunst. Dann könne man jetzt wohl zurück.
Politische Bezüge
Zum ersten Mal bei Daniel Kehlmann gibt es in der "Vermessung der Welt" politische Bezüge. Vor dem Hintergrund der Wirrnisse in Deutschland während und nach der Herrschaft Napoleons, müssen die Wissenschaftler ihren Lebensunterhalt bestreiten. Ob es nun um den Sklavenhandel in Südamerika oder die deutsche Grenzkontrolle geht: Die fast heroische Gleichgültigkeit gegenüber lokalen Konventionen ist den beiden Forschern gemein. Schließlich haben sie ja Wichtigeres zu tun.
Despotie, wenn er das schon höre! Fürsten seien auch nur arme Schweine, die lebten, litten und stürben wie alle anderen. Die wahren Tyrannen seien die Naturgesetze.
Hör-Tipps
Diagonal, Samstag, 18. Februar 2006, 17:05 Uhr
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Ex libris, jeden Sonntag, 18:15 Uhr
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Buch-Tipp
Daniel Kehlmann, "Die Vermessung der Welt", Rowohlt Verlag, ISBN 3498035282