Die Generation der Sechziger
Aufbruch und Absturz
"Wir sind eine Generation ohne Lehrmeister." Das war der Leitspruch einer Gruppe von ägyptischen Autoren, die nach der Revolution von 1952 groß geworden ist und die Katastrophe der Niederlage von 1967 erlebt hat: die Sechziger-Generation.
8. April 2017, 21:58
Sie waren die "Jüngeren", die sich von den "Alten" nicht nur im Schreibstil unterschieden: die Generation der Sechziger. In Ägypten ist es üblich geworden, Autoren in "Generationen" zusammenzufassen, wobei der Beginn der schriftstellerischen Tätigkeit ausschlaggebend ist. Anders als die Autoren davor, die allesamt aus dem städtischen Bürgertum stammen, verdanken sie ihre Bildung den gesellschaftlichen Umwälzungen, die mit dem Sturz der Monarchie eingeleitet wurden.
Die sozialistisch geprägte Politik verbesserte die Bildungschancen all jener, die auf dem Land fernab der städtischen Kultur aufgewachsen sind. Resultierend daraus blieben die "Sechziger", auch wenn sie im Verlauf ihrer weiteren Entwicklung von genau jenem Regime drangsaliert wurden, dem Revolutionsregime lange Zeit positiv verbunden, zumindest bis knapp vor der Niederlage 1967, die das ägyptische (und arabische) Selbstbewusstsein stark beschädigt hat.
Vom Realen zur Fantasie
Die "Sechziger" wandten sich vom Realismus der "Alten" ab, wandten sich neuen Erfahrungsebenen zu, experimentierten mit Sprache und Form - völlig frei von störenden literarischen Vorbildern. Am ehesten wurden sie geleitet vom Bedürfnis, wie ein Fotograf oder ein Kameramann Außen-an-sichten festzuhalten, Außen-an-sichten von Menschen, von Handlungen, von Situationen. Emotionen nur insoweit zu berücksichtigen, als sie auch von anderen zu beobachten sind. Emotionalität gestatteten sie sich höchstens in der Rolle des Erzählers.
Ein wahrer Meister dieser Kunst ist der ehemalige Postbeamte Ibrahim Aslan. "Ich möchte meine Leser nicht davon abhalten, selber zu denken", erklärte Ibrahim Aslan in einem Interview 2010. "Für mich bedeutet die Arbeit des Schreibens – und der Kunst – darin, den anderen eine wahre und ästhetisch gangbare Möglichkeit für eigenes Denken anzubieten." Man hat ihm Wortkargheit vorgeworfen, doch der Satz "Die ganze Welt ist wortkarg wie ein Telegrafenamt" war das erste, das ihm der alte Beamte gesagt hat, der ihn in seine Arbeit eingewiesen hat. Seine ersten Kurzgeschichten wurden in der ägyptischen Literaturzeitschrift "Gallery 68" veröffentlicht und wurden von den anderen seiner Generation, allen voran Nagib Mahfus sehr geschätzt.
Preise ablehnen
Man darf sich die "Sechziger", zu denen untern anderem auch Gamil Atiya Ibrahim, Gamal al-Ghitani oder Nagi Naguib gehören, allerdings nicht als organisierte Gruppe vorstellen. Was sie vereint, ist ihr Wissen um die Unwahrheiten der offiziellen Sprache des Revolutionsregimes und ihr Widerstand gegen die vorgelogene Wirklichkeit. Was so weit ging, dass einzelne "Sechziger" offizielle ägyptische Ehrungen zurückwiesen. Sonallah Ibrahim lehnte 2003 den Ägyptischen Staatspreis, den man ihm verleihen wollte, zurück. Dieser Regierung, so begründete er seine Verweigerung, die es geschafft habe, das Land in den wirtschaftlichen Ruin zu treiben, habe nicht das Recht und die Glaubwürdigkeit, einen Literaturpreis zu verleihen.
Gamal al-Ghitani, ebenfalls ein "Sechziger", wehrte sich heftig, im Jahr 2005 auf die Short-List für eben diesen Preis gestellt zu werden. Er fügte der nackten Realität, die seine Schriftstellerkollegen in ihren werken praktizierten, in seinen Büchern eine weitere Komponente hinzu: das Phantastische und Groteske. Gamal al-Ghitani ist eigentlich gelernter Teppichdesigner und war als solcher in den sechziger Jahren als Kontrollor der Teppichproduktion in Oberägypten unterwegs. Damals wurden seine ersten Erzählungen veröffentlicht, die ihm dann auch prompt ein halbes Jahr Gefängnis einbrachten. In deutscher Sprache sind von ihm die literarische Expedition "Pyramiden" sowie zwei Romane erschienen: "Seini Barakat" und "Der safranische Fluch oder Wie Impotenz die Welt verbessert". Beide Romane geißeln auf satirische Weise den Umgang der Menschen miteinander, ihre Hoffnung auf eine bessere Welt und die ungeeigneten Mittel, mit denen sie diese bessere Welt erzwingen wollen.
Die Abweichler und Desorientierten
Gamil Atiya Ibrahim hat seine schriftstellerische Karriere während seiner Zeit als Lehrer für Mathematik in Marokko begonnen. Sein Hauptaugenmerk gilt den Abweichlern, den Desorientierten, dem Vernunftwidrigen, sie beziehen sich meist auf aktuelle Ereignisse. Möglicherweise liegt darin der Grund, dass er, zumindest in der Zeit um die Jahrtausendwende, in der Schweiz gelebt hat.
Der berühmteste "Sechziger", der Literaturnobelpreisträger des Jahres 1988 Nagib Mahfus, war den Behörden auch nicht unbedingt in Freundschaft verbunden. Sein Roman "Die Kinder unseres Viertels", der ab 1959 als Fortsetzungsroman in der staatlichen Zeitung al-Ahram erschienen ist, erregte nicht nur den Unmut der politischen Machthaber, sondern auch der Islam-Gelehrten. Letztere verhinderten bis heute das offizielle Erscheinen dieses Buchs, "Die Kinder unseres Viertels" in Ägypten. Was die Ägypter dennoch nicht daran hinderte, es kennen zu lernen: unter dem Ladentisch war es in geschmuggelten Exemplaren immer erhältlich.
Service
Ibrahim Aslam, "Der Ibis", Lenos Verlag
Gamal al-Ghitani, "Der safranische Fluch oder Wie Impotenz die Welt verbessert", dtv
Gamal al-Ghitani, "Seini Barakat, Diener des Sultans, Freund des Volkes", dtv
Gamal al-Ghitani, "Pyramiden – eine literarische Expedition", C. H. Beck
Nagi Naguib (Hg.), "Farahats Republik. Zeitgenössische ägyptische Erzählungen", Verlag Der Olivenbaum
Nagib Mahfus, "Die Kinder unseres Viertels", Unionsverlag
Arabic Literature - Egypt’s Sixties Generation Novelists
Deutschlandfunk - Streit um "Die Kinder unseres Viertels"