Im Gespräch mit dem Weltdichter

Walking With Bernhard

Kollege Robert Weichinger unternimmt seine Spaziergänge in Begleitung des wissenden Literaturdozenten Klaus Kastberger. Spazieren gehen können aber auch andere - zumindest fiktiv -, und das in noch wissenderer und hochnobler Begleitung.

Interessant. Der hinterhältige Kollege von nebenan geht also mit Kastberger auf der Sulzwiese spazieren. So, so! Darin liegt zwar keinerlei Verdienst, mit der einzigen Ausnahme, dass er dafür seinen gewaltigen Hintern aus dem Bürostuhl hoch wuchten muss, in dem er sein Leben verbringt. Indes ließ mich das nicht zur Ruhe kommen, und so beschloss ich, ebenfalls spazieren zu gehen.

Doch mit wem? Mit dem treulosen Kastberger? Mit sonst einem Langweiler aus unserer so genannten Sekundärliteratenszene, einem dieser Inkompetenzschmierer? Pah! Ich gehe mit Thomas Bernhard selbst spazieren!

Schon von der Westautobahn sah ich den mächtigen Vierkanthof des Großschriftstellers auf dem Hügel von Ohlsdorf im Sonnenlicht gleißen. Um den Dichterfürsten nicht zu beunruhigen, stellte ich den Wagen in einiger Entfernung ab und legte den letzten Kilometer des Weges zu Fuß zurück. Was konnte den Herrn der Dichtkunst mehr überzeugen, als wenn ich schon federnden Schritts an seiner Tür ankäme?

Indes nahm ich schon beim Öffnen der Wagentür einen abstoßenden Gestank wahr: Rundum sah ich mich von Schweineställen umgeben. Tatsächlich gab es hier nichts als Schweineställe. Nichts als Schweinemastanstalten. Und Kirchen. Ja, trägt den die Schweinemast heute noch etwas, fragte ich mich.

Eilig machte ich mich auf den Weg. Indes brach derweilen die Dämmerung herein. Doch welch eine Dämmerung! Es wurde nicht nur rasch dunkler, als ich mich dem Wohnsitz des Königs der Literatur näherte, es wurde zudem immer noch finsterer und finsterer. In vollkommener Dunkelheit klopfte ich schließlich an die Tür. Vor mir stand - Thomas Bernhard.

"Ja Sie, was wollen Sie denn?", fragte Bernhard kurz angebunden, aber nicht unfreundlich. "Um die Wahrheit zu sagen", sagte ich, "ich liebe das Spazierengehen nicht. Es ist mir eine Qual. Aber es muss spaziert werden." - "Ja, ja", sagte Bernhard. "Wir wollen das Leben nicht. Aber es muss gelebt werden."

In diesem Moment ertönte aus dem Inneren des in völliger Dunkelheit daliegenden Anwesens ein klirrender, schmetternder Lärm. Gerade so, als hätte jemand an einem voll gedeckten Esstisch plötzlich das Tischtuch hochgezogen, sodass alle Teller, das Besteck, die Trinkgläser, die Schüsseln und Flaschen in einem Schwung zu Boden stürzen und allesamt in Scherben brechen. Ich erschrak heftig.

Der Dichterkönig drehte sich um. "Ritter!", rief er ins Haus hinein. "Ritter, Dene! Voss! Morgen in Augsburg." - "Morgen Augsburg", antwortete ein mehrstimmiger Chor von innen. "Aber ich habe den französischen Brief bekommen", widersetzte sich eine Stimme. "Stellen Sie sich vor, eine Garantiesumme. Man erwartet mich in Bordeaux." - "Morgen Augsburg", beharrte Bernhard unerbittlich.

"Die Erfahrung zeigt", wandte er sich mir wieder zu, "dass einer, kriecht er längere Zeit auf dem schmutzigen Boden, schmutzig wird. Ein Dummkopf, der heute noch einem Künstler glaubt." - "Recht finster haben Sie es hier, verehrter Bernhard", erlaubte ich mir anzumerken. "Sogar sehr finster. Es herrscht ja völlige Dunkelheit. Nicht einmal ein Notlicht ist auszumachen." - "Gelöscht", antwortete Bernhard resolut. "Naturgemäß. Das Licht wird schwächer. Schließlich sehr schwach. Schließlich geht es ganz aus. Naturgemäß auch das Notlicht. Wenn das Notlicht nicht gelöscht wird, verkehrt sich ja meine Komödie gerade in ihr Gegenteil." - "Aber ist das nicht feuerpolizeilich unstatthaft?" fragte ich. - "Die Feuerwehrleute sind verbohrt", ärgerte sich Bernhard. "Die Statistik beweist, dass sie jährlich mehr Unheil anrichten, als alle anderen. Brennt erst ein Gebäude, vernichtet es die Feuerwehr zur Gänze."

"Ich habe auch ein Picknick mitgebracht", versuchte ich, das Gespräch wieder auf mein eigentliches Anliegen zu lenken. "Aber keine Schnitzelsemmeln und keine Kantwurstbrote, mit denen sich der würdelose Kastberger sofort zufrieden gäbe. Vielmehr: Muscheln in einer Sauce aus weißem Bordeaux. Vorher eine Frittatensuppe. Zum Nachtisch: Brandteigkrapfen!"

"Die Suppe hoffentlich nicht zu fett", sagte der Kaiser der Worte. "Immer diese Riesenfettaugen in der Suppe. Selbst in der Frittatensuppe feiert die Provinz ihre Triumphe." - "Aber Brandteigkrapfen sind doch Ihre Lieblingsmehlspeise. Ganz frische Brandteigkrapfen", sagte ich lauernd. - "Ja ja. Brandteigkrapfen, die ich liebe. Bernhard, der die Brandteigkrapfen liebt. Wie in einer Gruft. Ich bin ja schon begraben. Eine köstliche Gruft, in der Brandteigkrapfen serviert werden", monierte Bernhard, mehr zu sich selbst. Und dann, nach einer Pause: "Also meinetwegen. Gehen wir halt auf den Heldenplatz."

Auf unserem Weg zum Heldenplatz kamen wir am Burgtheater vorbei, und beim Anblick dieses ehrwürdigen Gebäudes, der Stätte vieler seiner Triumphe, geriet Bernhard unerwartet in Wut. "Die Burgschauspieler sind Popanze, die aus dem Burgtheater ein Siechenhaus ihres dramatischen Dilettantismus gemacht haben", rief er aus und fixierte mich mit dem Blick. "Alles wird von diesen Leuten auf dem Burgtheater mit ihrer mimischen Brachialgewalt vernichtet. Nicht nur der zarte Raimund, nicht nur der nervöse Kleist wird auf dem Burgtheater zertrümmert. Selbst der große Shakespeare fällt da, wo man sich einbildet, die Theaterkunst in die Ewigkeit hinein gepachtet zu haben, den Burgtheaterschlächtern zum Opfer."

Ich wusste nicht, was antworten. Endlich auf dem Heldenplatz angekommen, steigerte sich der Meister sogar noch in seinem Furor. "Der Staat eine Kloake, stinkend und tödlich. Die Kirche eine weltweite Niedertracht." Bernhard trommelte mit seinem schwarzen Spazierstock mit Silberknauf auf den Boden. "Perverse Caritasdirektoren reisen mit dem Flugzeug nach Eritrea und lassen sich mit den Verhungerten fotografieren. Ausgefressene Schriftsteller gehen in die Gefängnisse und lesen den Häftlingen ihren verlogenen Dreck vor. Die ganze Welt ist ein einziger Zynismus." - "Der Geist ist immer mit Füßen getreten worden. Dem Stumpfsinn sind immer alle nachgelaufen", stimmte ich begeistert zu, und dachte darüber nach, wie ich diese brillante Formulierung auf den Kollegen im Bürostuhl ummünzen könnte.

Doch Bernhard wurde nach dem Wutausbruch und dem langen Marsch nun zunehmend melancholisch. "Ach was", sagte er. "Ich protestiere gegen nichts mehr." Müde setzte er sich auf eine Parkbank. "Das Wesen der Krankheit ist so dunkel als das Wesen des Lebens." - "Novalis", pflichtete ich bei und setzte mich zu ihm auf die Bank. "Naturgemäß", antwortete er. "Die ganze Welt besteht ja nur noch aus absurden Ideen", sagte er noch. Dann schliefen wir beide erschöpft ein.

Service

Die Orte, Zitate und Requisiten dieses Spaziergangs entstammen großteils Stücken und Prosawerken Thomas Bernhards.

CD "Thomas Bernhard 1931 - 1989. Das Porträt", ORF-CD 700,
Ö1 Club-Mitglieder erhalten im ORF-Shop 10 Prozent Ermäßigung.

thomasbernhard.at