Getauschtes Leben

Sturmflut

Zeeland 1953. Eine Flutkatastrophe vernichtet das gesamte Südwestdelta der Niederlande, rund 1.800 Tote sind zu beklagen. Die niederländische Bestsellerautorin Margriet de Moor hat dieses historische Ereignis in ihrem neuen Roman verarbeitet.

Im Mittelpunkt von Margriet de Moors neuen Roman stehen zwei Schwestern: Amanda und Lidy, so zart und schwebend gestaltet, dass man sie kaum greifen kann. Was passiert? Am 31. Jänner 1953 fährt Lidy statt Amanda nach Zeeland, um einer Verwandten einen Besuch abzustatten. Es ist der Tag des historischen Unwetters, in dem 1.800 Menschen sterben und rund 800 Menschen vermisst werden. Der Südwesten der Niederlande verschwindet von der Landkarte. Es ist der Tag, an dem die junge Lidy untergeht und Amanda weiter leben muss in einem falschen Leben, einer falschen Identität - sie lebt als Lidy.

Rollentausch

Scheinbar ist das ein Tausch ohne Hindernisse, denn im Text ist die Rede von kleinen hübschen Kofferchen, geblümten Tischdecken, zirkuszeltartigem Licht, Lichtflecken auf einer Damasttischdecke, sonnenüberfluteten Tulpenfeldern, traumhafter Vertrautheit,... Nirgends liest man von der inneren Bedrängnis, der Notwendigkeit dieses Rollentausches und warum die eine Frau die andere nun ersetzt - und wenn dann endlich Sturm und Flut zu Wort kommen, den Leser also die große Katastrophe überrollen soll, dann klingt das so:

Das Geräusch eines Sturms ist kaum zu beschreiben. Oder eher: die Wirkung, die er auf einen hat. Die Welt macht Geräusche. Ohne auch nur einen Augenblick Ruhe ist sie am Knirschen, Rumsen, Reden und Wehklagen, in allen Nuancen, bis sie zum Schluss sogar singt.

Trickreiche Sprünge und Verschachtelungen

Margriet de Moor kennt sich aus in der Musik. Sie hat Gesang studiert und kann musikalische Formen virtuos in literarische verwandeln. Aber so? Warum hat man beim Lesen Hunger nach einer ganz anderen Geschichte, nach einem Buch, dem das Wetter, die Figuren, die Untiefen und Eigenheiten so gelungen sind wie in "Fräulein Smillas Gespür für Schnee"?

De Moor führt die Leben von Amanda und Lidy parallel - während die eine in der Badewanne sitzt, geht die andere im Sturm unter. Die Autorin kostet immer wieder Zeitsprünge aus, fächert Biografien auf, aber die trickreichen Sprünge und Verschachtelungen kennt man nun schon aus Romanen wie "Der Virtuose" und "Kreutzersonate", auch diesen anmutig leisen Ton der Autorin.

Roman in Pastelltönen

Die Sturmflut" ist ein Roman in Pastelltönen, ein Roman in schöner Geläufigkeit, fast wie eine Etüde, die als Probe für den Ernstfall dient, der aber niemals eintritt, auch wenn davon die Rede ist. Oder zu einer Art Nachrichtenmeldung - zu Kälte und Erstarrung, aber vielleicht stimmt das ja, vielleicht ist es eben so, wenn die Flut kommt. Dass wir verstummen.

Währenddessen warteten sie mit harten, kalten Gesichtern ab. Sie schauten, als wären sie aus dem nichts zum Vorschein gekommen, wiederauferstanden, aber ohne zu wissen und ohne damit zu rechnen, das je noch zu erfahren. (...) Haarscharf an den einstürzenden Deichen entlang schießend, kenternd, zur Seite drängend und wieder zurückströmend, hatte die Flutwelle einen Druck von Tonnen pro Quadratmeter in sich gesammelt, als sie Naweg 1 bis 8 erreichte und wie ein Punchingball darauf zuschoss.

Ein Buch fürs Bett

Die Menschen also sind parallelisiert. Vielleicht sterben sie vorher schon den Kältetod, vielleicht ahnen sie schon vorab:

Wie aussichtslos Wasser doch ist! Es saugt deine Körperwarme sechsundzwanzigmal schneller aus dir als Luft von derselben Temperatur (...) Sogar deine allervernünftigsten Reflexe sind nach eineinhalb Minuten völlig durcheinander.

An solchen Stellen ist das Buch bedrückend und düster und eben gut - weil Margriet de Moor eine galante Erzählerin ist, die zu täuschen versteht. Und doch geht die Angst, der Tod in diesem Text gleichsam mit der Sturmflut unter, aber vielleicht ist das auch gar nicht Thema dieses Buches. Thema sind wohl Landschaft und Wetter, die Details zweier Frauenleben, ihre Räume und Gegenstände, nicht aber ihre Abgründe. Wer sich also gern ins Bett verkriecht und gar nicht so ganz genau wissen will, wie das ist, wenn ein Schritt beiseite das Leben verändert, der liegt genau richtig mit diesem Buch und kommt mit schönen Sätzen und einem echt kitschigen Schluss voll auf seine Kosten.

"Das Buch der Woche" ist eine Aktion von Ö1 und Die Presse.

Hör-Tipps
Die Literatur-Miniatur, Freitag, 3. Februar 2006, 16:55 Uhr

Ex libris, Sonntag, 5. Februar 2006, 18:15 Uhr

Mehr dazu in Ö1 Programm

Download-Tipp
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Buch-Tipp
Margriet de Moor, "Sturmflut", übersetzt von Helga Beuningen, Hanser Verlag, ISBN 3446207139