Salman Rushdies Version des Kaschmir-Konflikts
Shalimar der Narr
Krieg, Terror und Attentate, Mord, Geheimdienstoperationen, Stammesfehden, religiösen Fanatismus, politische Unfähigkeit und Ignoranz: All das mischt Salman Rushdie zu einem vielgestaltigen, monströsen Potpurri aus zahlreichen Handlungssträngen.
8. April 2017, 21:58
Los Angeles im Jahr 1990. Hier lebt in einem Vorstadt-Appartementhaus eine junge, sportliche Frau mit einem besonderen Kennzeichen: Sie ist von ihrer Vergangenheit gleichsam abgeschnitten. Sie kennt ihren Vater, auf dessen Besuch zu ihrem 24. Geburtstag sie gerade wartet. Er wird ihr einen kleinen, zweisitzigen Sportwagen schenken. Von ihrer Mutter weiß die junge India nichts. Nicht deren Namen, nichts von ihrer Familie, mit der einzigen Ausnahme, dass sie aus Kaschmir stammt und angeblich tot ist.
Bewunderter Vater
Herausstellen wird sich weiters, dass sie auch von ihrem Vater vieles nicht weiß. Sie weiß, dass er US-amerikanischer Botschafter in Indien gewesen war; dass sie selbst einer skandalösen Affäre des weltgewandten Diplomaten mit jener Unbekannten aus Kaschmir, ihrer Mutter, entstammt.
Sie bewunderte, wie er ausschritt, ohne jede Unsicherheit oder Schwäche. Er mochte ein Halunke sein, war ohne Frage ein Halunke, aber er besaß den Willen zur Selbstüberwindung. Er war erfüllt von jener inneren Kraft, die es Bergsteigern erlaubt, achttausend Meter hohe Gipfel zu erklimmen. "Die Freiheit ist kein Kaffeekränzchen", hatte er einmal zu India gesagt. "Die Freiheit ist Krieg."
Shalimar der Chauffeur
Immerhin eines erfährt India an ihrem 24. Geburtstag: Sie lernt den neuen Chauffeur ihres Vaters kennen, einen groß gewachsenen, attraktiven Mann um die 40, der Shalimar heißt. Sich Shalimar nennt, um einmal mehr genau zu sein.
Mühsam wandte er den Blick von ihr ab. Er komme, erwiderte er stockend, aus Kaschmir. Ihr Herz tat einen Sprung. Ein Fahrer aus dem Paradies. (...) Jeder, der sie kannte, wusste, dass die Worte "Kaschmir" und "Paradies" für sie gleichbedeutend waren.
Wenige Wochen später wird ihr Vater tot sein. Shalimar, der Fahrer aus Kaschmir islamischen Glaubens, hat ihm auf offener Straße die Kehle durchgeschnitten und sich danach widerstandslos festnehmen lassen.
Perfekte Erzählkunst
Seit Salman Rushdie wissen wir, was eine Fatwa ist: ein religiös motiviertes Todesurteil. Rushdie, der britische Schriftsteller indischer Herkunft, habe mit seinem Roman "Die Satanischen Verse" Gott und den Glauben beleidigt, so der Urteilsspruch des islamischen Würdenträgers Ayathollah Khomeini. Seither lebt Salman Rushdie versteckt. Und er hat, von der Fatwa und der beständigen Todesdrohung unbeeindruckt, weiterhin grandiose Romane geschrieben. Sein neuester, "Shalimar der Narr", ist vielleicht sein bester überhaupt.
Rushdie versteht es wie kein Zweiter, orientalische Erzähl- und Fabulierkunst mit "westlichen" Romantechniken zu verbinden, als da sind: gekonnte Vor- und Rückblenden, raffinierte Schnitte und "Cliffhanger", gezielt und präzis eingesetzte Verlangsamung und Beschleunigung, nicht zuletzt ein atemloser, fiebriger Show-Down als effektvolles Ende der sich dramatisch zuspitzenden Romanhandlung.
Aus der Sicht der Kaschmiri
Hintergrund ist der Kaschmir-Konflikt zwischen Indien und Pakistan, die Auseinandersetzungen um das Land am Fuße des Himalaja, die in bisher vier Kriegen kulminierten, wobei sich Rushdie vornehmlich die Sicht der Kaschmiris auf diesen endlosen, brutal ausgetragenen Konflikt zu eigen macht: jener etwa zehn Millionen Menschen, Hinuds und Moslems, die recht wenig Interesse daran haben, als Objekte des nationalen Prestiges zwischen zwei großen, verfeindeten Staaten zerrieben zu werden.
Salman Rushdie zeigt mit seinem neuen Roman, wie mühelos er die Fusion östlicher und westlicher Erzähltechniken beherrscht, und wie faszinierend und spannend diese Vereinigung zweier Welten sein kann. "Shalimar der Narr" ist 500 Seiten Lesestoff, die wie im Flug vorüberziehen; und - das kann man heute schon sagen - eines der "Bücher des Jahres" im noch jungen Kalenderjahr 2006 ist.
"Das Buch der Woche" ist eine Aktion von Ö1 und Die Presse.
Hör-Tipps
Die Literatur-Miniatur, Freitag, 20. Jänner 2006, 16:55 Uhr
Ex libris, Sonntag, 22. Jänner 2006, 18:15 Uhr
Mehr dazu in Ö1 Programm
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Buch-Tipp
Salman Rushdie, "Shalimar der Narr", aus dem Englischen übersetzt von Bernhard Robben, Rowohlt Verlag, ISBN 349805774X