Leo Bretholz und sein Wettlauf mit dem Tod
"Ich bin noch hier!"
"Flucht in de Dunkelheit" - so lautet sein jüngst erschienenes Buch, in dem Leo Bretholz sein Schweigen über die Nazi-Zeit brach und über seine traumatischen Erfahrungen schrieb. Erinnerungen, die für ihn schmerzhaft sind, ist doch damals seine Familie umgekommen.
8. April 2017, 21:58
Erinnerungen an den Zeitpunkt seiner Flucht
"Es ist wichtig, dass die Erinnerung nicht stirbt", sagt der heute 84-jährige Leo Bretholz, der am 25. Oktober 1938 im Alter von 17 Jahren fluchtartig seine Heimatstadt Wien verlassen musste. Und es sollte nicht weniger als 67 Jahre dauern, bis er sein Schweigen brach und seine Erlebnisse von damals in einem Buch niederschrieb.
Der Tag der Abreise
Es war der 25. Oktober 1938, als sich Leo Bretholz von seinen Wiener Freunden verabschiedete, ohne ihnen sagen zu können oder zu dürfen, dass er flieht. Seine Mutter Dora verabschiedete ihn vor einer Straßenbahn-Haltestelle mit den Worten: "Sei sehr vorsichtig". Er umarmte sie und Henny, seine Schwester. Es sollte das letzte Mal in seinem Leben sein:
"Meine Mutter hat mich weggeschickt, weil ich ein Bub war, und die jüdischen Buben und Männer waren die ersten, die verhaftet wurden. Wir konnten nicht gemeinsam weg. Es herrschte damals Chaos", erinnert er sich an damals. Es gab Nachbarn, die, als Hitler einmarschierte, seine Familie nicht mehr kannten; es gab auch Freunde, die ihn am Tag danach anspuckten.
Sein Fluchtweg ins Ausland
Sein erstes Fluchtziel war Luxemburg, wo sich bereits seine Tante Mina und Onkel Sam aufhielten. Dort wurde er in einem Franziskanerkloster versteckt. In Trier musste er den Fluss Sauer überqueren, um zu seinen Verwandten zu kommen. Nach einer ersten Verhaftung gelang ihm die Flucht nach Antwerpen, wo er die Familie Frajermauer, entfernte Verwandte seiner Mutter, kennen lernte. Nach dem deutschen Angriff auf Belgien kam er in ein Internierungslager nach St Cyprien im südlichen Frankreich. Dort gelang ihm wieder die Flucht.
Leo Bretholz blieb in der Folge bei Familie Frajermauer, die inzwischen auch nach Frankreich geflohen ist. Nach einer erneuten Flucht vor der Polizei traf er Mendel Spira, einen französischen Freund, und bekam als "Paul Meunier" eine neue Identität. Gemeinsam mit dem Opernsänger Albert Hershkowitz wollte er über die Berge in die Schweiz gelangen, wurde aber an der Grenze gefasst und in ein Lager nach Frankreich zurückgebracht. Im November 1942 wurde er schließlich in das berüchtigte Sammellager in Drancy, einem Vorort von Paris, verlegt.
Der Warteraum für Auschwitz
Von Drancy aus wurden insgesamt mehr als 65.000 Menschen in Frachtzügen in Konzentrationslager deportiert. In diesem Lager traf Bretholz den Wiener Manfred Silberwasser. In seinem Buch "Flucht in die Dunkelheit" schreibt Leo Bretholz:
Das Lager in Drancy war der Warteraum für Auschwitz - unzählige Kilometer, eine Reise von vier Tagen in einem voll gestopften Güterzug entfernt. Zwei Wochen nach unserer Ankunft wurde uns befohlen, unsere Habseligkeiten zusammenzusuchen. Wir wurden in die Güterwaggons getrieben. Manfred und ich standen unter dem kleinen Fenster nahe der hinteren linken Seite des Zuges. Hier war eindeutig unsere letzte Chance. "Das Fenster", sagte ich ...
Der Sprung in die Freiheit
Leo Bretholz erinnert sich heute noch genau an die damalige Situation: "Es war keine Heldentat, es war die Angst, nicht dorthin zu kommen, wo die Leute umgebracht werden, und es war die Hoffnung, meine Mutter wieder zu sehen. Ich denke noch immer an meine Mitreisenden: an das Kind, das von seinen Eltern beim Einsteigen getrennt wurde, und an den alten Mann, der zu einem unsichtbaren Gott betete; an meinen Freund Albert, der noch einmal ein trauriges italienisches Volkslied sang und an den kleinen Buben, der auf dem Schoss der alten Frau saß, der alten Frau, die ihre Krücke in die Luft geschwungen und Manfred und mir zugerufen hatte: 'Wer soll denn sonst unsere Geschichte erzählen? Geht jetzt! Geht!"
Gemeinsam mit seinem Freund Manfred Silberwasser zwängte er sich durch die knapp 30 Zentimeter breiten Gitterstäbe und sprang mit ihm während der Fahrt aus dem Zug, der sie nach Auschwitz hätte bringen sollen.
In Paris zur Résistance
Nach dem Sprung aus dem Zug gelangten beide in ein Dorf, wo sie vom dortigen Pfarrer aufgenommen wurden und zwei Zugkarten nach Paris erhielten. Die Wege der beiden trennten sich. Leo Bretholz ging wieder zu den Spiras, wurde erneut verhaftet und nach einem Fluchtversuch von einem Gendarmen schwer zusammengeschlagen, kam in ein Arbeitslager, flüchtete wieder und bekam erneut neue Identitätspapiere.
1943 war Leo wieder in Paris, um Familie Frajermauer zu finden. Er schloss sich der Résistance an. Ein eingeklemmter Leistenbruch brachte ihn in ein Krankenhaus, wo er operiert wurde und ihm die Oberschwester Jeanne D'Arc versicherte, dass er nichts zu befürchten hätte: "Es waren immer die Frauen, die geholfen haben", sagt Leo Bretholz heute: "Die Frau im Rettungswagen wollte nicht, dass ich als Jude erkannt werde, und Schwester Jean d'Arc, die ich 1993 wieder gesehen habe, schwieg ebenso".
Seine Ausreise nach Amerika
Als der Krieg vorbei war, erhielt Leo Bretholz im Dezember 1946 ein französisches Ausreisevisum und buchte gemeinsam mit einem Freund Schifftickets für die Überfahrt nach Amerika. Bevor er Europa verließ, besuchte er noch seine Tante Erna in Paris und gemeinsam mit seinem Cousin Paul die Familie Frajermauer in Belgien.
Die folgenden Jahre in Amerika sprach er nicht über den Krieg: "Für mich endete der Krieg erst 17 Jahre, nachdem das Morden offiziell aufgehört hatte. Die letzte Nachricht von Kriegsopfern kam im Oktober 1962, als ich einen Brief der Israelitischen Kultusgemeinde erhielt - mit der endgültigen Nachricht vom Tod meiner Mutter und meiner Schwestern - 24 Jahre, nachdem ich Wien verlassen hatte. Wo ihre letzte Ruhestätte ist, wird ein Geheimnis bleiben, das ich nie erfahren werde", sagt er noch heute trauernd.
"Ich schweige nicht mehr!"
In Baltimore heiratete Leo Bretholz, gründete eine Familie und baute sich eine berufliche Existenz auf: "Ich habe immer gelesen, war 20 Jahre lang Buchhändler, 13 Jahre Textilvertreter, hatte ein Detailgeschäft für den Buchhandel. Erst mein Freund, der Journalist Michael Olesker, überredete mich, über meine Erlebnisse ein Buch zu schreiben", sagt der inzwischen 84-Jährige.
Inzwischen ist er Vater dreier Kinder und hat vier Enkel. Auf die Frage, was er sich von seinem Buch erwartet, antwortet er: "Wenn das Buch nur an die Schulen geht, hat es seine Mission schon erfüllt". Er ist überzeugt davon, dass es nie genug sein kann, über die damaligen Verhältnisse zu berichten: "Diejenigen, die sagen, sie haben genug gehört, beweisen nur, dass sie nichts verstanden haben. Die letzten Worte meiner Mutter waren: 'Vergiss nie, wer du bist'. Wenn ich jetzt vergesse, wer ich bin, gebe ich Hitler einen nachträglichen Sieg. Ich bin Jude. Hitler wollte, dass wir verschwinden. Ich werde ihm den Gefallen nicht tun. Dieser Judenhass ist doch eigentlich eine Krankheit. Dass es in der Welt noch immer Antisemitismus gibt, ist fast unglaublich. Ich bekämpfe das in meiner Art: Ich bleibe nicht ruhig und sage, was gesagt werden muss. Aber ich sehe gute Zeichen hier in Wien: Gedenkdienste, Schullehrer, Leute, die sich bemühen, nicht nur über die alte Zeit zu berichten, um daraus zu lernen, sondern die auch etwas für die Zukunft zu tun".
Mehr zu Leo Bretholz in 2005.ORF.at
Hör-Tipp
Menschenbilder, Sonntag, 15. Jänner 2006, 14:05 Uhr
Download-Tipp
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Buch-Tipp
Leo Bretholz, Michael Olesker, "Flucht in die Dunkelheit, Löcker Verlag, ISBN 3854094256