Zum 100. Geburtstag von Emmanuel Lévinas

Im Bann des Anderen

Emmanuel Lévinas ist der weniger Bekannte unter den Großen der Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts. Das mag daran liegen, dass Lévinas die öffentliche Arena stets gemieden hat. Im Zentrum seines Denkens steht die Begegnung mit dem Anderen.

Am 27. Dezember 1995 hielt der Philosoph Jacques Derrida auf dem Pariser Friedhof Pantin die Grabrede für Emmanuel Lévinas. Der am 12. Jänner 1905 geborene französische Philosoph war zwei Tage zuvor im Alter von fast 90 Jahren verstorben. In seinem später als Buch publizierten "A-dieu..." würdigt Derrida seinen älteren Freund und Lehrer als einen der großen Denker des 20. Jahrhunderts und zugleich als einen herausragenden Deuter und Erneuerer der jüdischen Traditionen.

Philosophie und Talmud

Während Lévinas philosophische Werke mittlerweile in mehr als 20 Sprachen übersetzt worden sind und weltweit an Universitäten diskutiert werden, sind seine jüdischen Schriften - in der Hauptsache Talmud-Auslegungen - erst in jüngerer Zeit einer größeren Öffentlichkeit bekannt geworden. In Israel, Europa und in den USA sind im Jahr 2006 eine Vielzahl von internationalen Kolloquien und Veranstaltungen geplant: "Ein Jahrhundert mit Lévinas".

Husserl und Heidegger

Lévinas akademischer Weg beginnt im Jahr 1923 als Student der Philosophie in Straßburg. Gegen Ende der 20er Jahre schreibt Lévinas seine Doktorarbeit über die Theorie der Anschauung in der Phänomenologie Edmund Husserls und übersetzt dessen "Cartesianische Meditationen" ins Französische. Dadurch wird er ganz wesentlich dazu beitragen, die Phänomenologie, die in Frankreich auf weitaus fruchtbareren Boden fällt als in Deutschland, bekannt zu machen. Nach einem Studienaufenthalt in Freiburg bei Edmund Husserl und Martin Heidegger, wird Lévinas von der Heideggerschen Daseinsanalyse tief geprägt.

Shoa

Im Jahr 1940 gerät Emmanuel Lévinas als französischer Offizier in deutsche Kriegsgefangenschaft und verbringt fünf Jahre im Lager Fallingbostel bei Hannover, wo er als Holzfäller arbeiten muss. Von dem ganzen Ausmaß des Grauens der Nazidiktatur, insbesondere von der Ermordung seiner Eltern und seiner Geschwister durch die SS in Litauen, erfährt Lévinas erst nach Kriegsende. Er beschließt daraufhin, nie wieder deutschen Boden zu betreten.

Denken nach der Katastrophe

Im Jahr 1947 veröffentlicht Emmanuel Lévinas mit den Büchern "Vom Sein zum Seienden" und "Die Zeit und der Andere" seine ersten philosophischen Werke. In diesen Büchern klingen bereits wichtige Grundgedanken an, die Lévinas in seinen Hauptwerken präzisieren wird. Sein Denken bleibt tief geprägt von der katastrophalen geschichtlichen Erfahrung des 20. Jahrhunderts und der Judenvernichtung. Es entwickelt sich in der Kriegs- und Nachkriegszeit aus einem starken Misstrauen gegenüber der abendländischen philosophischen Tradition heraus.

Der Andere

Wie kaum ein anderer Philosoph vor ihm hat Lévinas die Frage nach dem Anderen und die Begegnung mit dem Anderen ins Zentrum seines Denkens gestellt. Sie ist für ihn nicht nur ein besonders wichtiges Thema, sondern bildet geradezu den Ausgangspunkt seines Philosophierens. Die - vorphilosophische - Begegnung oder Beziehung mit dem Anderen ist nach Lévinas fundamental für unser Welt- und Selbstverhältnis. Erst die Beziehung zum Anderen, die Asymmetrie zwischen dem Anderen und mir, macht mich zu einem Ich. Der Andere ist absolut anders, er ist nicht auf seine Erscheinung als ein bestimmter Anderer zu reduzieren, wie dies in den Sozialwissenschaften oft geschieht.

Hör-Tipp
Salzburger Nachtstudio, Donnerstag, 12. Jänner 2006, 21:01 Uhr

Download-Tipp
Ö1 Club-Mitglieder können die Sendung nach Ende der Live-Ausstrahlung im Download-Bereich runterladen.

Link
Un Siècle avec Lévinas