Ein Plädoyer

Gott ist tot. Meine Würde lebt.

Einen Roman zu schreiben ist eine ziemlich schwierige Sache, gerade dann, wenn man von Berufs wegen Romane kritisiert. Da hat man ganz schön viele Vorurteile zu überwinden. Und mit dem Neid der Kollegenschaft zu leben.

Im Januar 1889 umarmte Friedrich Nietzsche, wie man weiß, auf der Turiner Piazza Carignano ein Pferd. Er war 45 Jahre alt, so wie ich (mein Geburtstag ist am 28. Februar, falls Sie mir gratulieren wollen), und hatte zuvor noch seine Zuversicht darüber geäußert, Gott zu sein, Ursprung und Einheit aller Dinge. Im Unterschied zu ihm sage ich solche Dinge nicht in der Öffentlichkeit. Ich nenne aber auch kein Pferd "Bruder", nicht einmal ein geschundenes, es gibt schließlich ein Tierschutzgesetz. Und auch sonst sind meine Affinitäten zu Friedrich Nietzsche begrenzt - ja, ich habe das selbstgefällige Zeug aus seiner Feder nur widerwillig gelesen. Bis auf die Sache mit dem Tod Gottes. Da wären wir Brüder im Geiste, hätte er sich eben nicht selbst an die Stelle Gottes gesetzt. Ich fand immer, da muss man konsequent sein. Entweder ist ER tot oder er ist es nicht.

Wie es aussieht, hat die Syphilis dem Philosophen den Verstand geraubt. Der Preis für ungeschützten promiskuitiven Sex war immer schon sehr hoch, diesbezüglich hat Gott, als er noch am Leben war, den Menschen ein schönes Ei gelegt. Als hätte er geahnt, dass er, eher er ins Nichts hinausphilosophiert wird, etwas hinterlassen muss, womit er noch Generationen seiner so genannten Ebenbilder das Fürchten lehren kann.

Eines Tages werden die an Eliteuniversitäten ausgebildeten Elitewissenschaftler in Eliteinstituten Möglichkeiten finden, die göttliche Hinterlassenschaft als Witz der Geschichte erscheinen zu lassen. Sex wird nicht mehr mit Krankheit bestraft werden, fettes Essen auch nicht. Das Leben wird trotzdem nicht ewig währen, aber man wird recht bequem vom Mutterschoß bis ins Pflegeheim segeln können, es sei denn, Gott hat vor seinem Abgang perfiderweise an den Zusammenbruch des Pensionssystem gedacht, an die Entladung sozialer Spannungen, an iranische Atomraketen, an Klimakatastrophen, an die Übervölkerung ganzer Erdteile, an die Auslöschung der Eliten durch die von Demagogen verbeulte Basis. Das Böse hat immer Saison.

Bis es zum Äußersten kommt, bleibt uns ja der Trost der Literatur. Die Hirntoten rund um uns behaupten gerne, wer gerade keinen Sex habe, der lese eben ein Buch, und wer noch nie Sex gehabt habe, der schreibe eines. Was soll jemand darauf sagen, der von und mit Büchern lebt? Lesen kann man ungeschützt, ein Buch nach dem anderen, quer durch, mehrere gleichzeitig, Tag und Nacht. Ist doch ein Argument! Was kümmert mich Gottes Hinterlassenschaft, wenn ich lese. Außerdem macht lesen keine Flecken.

Aber im Ernst, hätten die Hirntoten Recht, dürften meine Kollegen weder Partner, Kinder noch Affären haben. Weil sie nämlich alle an ihren Büchern schreiben. Oder an dem Buch - Opus Magnum, Ursprung und Einheit aller Literatur. Oh Schreck! Daran ist schon Proust gescheitert. Und fast nichts davon wird veröffentlicht, was mindesten so ein Trost ist wie die Lektüre wirklich guter Bücher, der Tod Gottes oder die blutigen Nasen der Eliten.

Nun halte ich nichts davon, Kulturjournalisten und vor allem Literaturkritikern die Fähigkeit abzusprechen, Literatur hervorzubringen. Hört man ja immer wieder: "Journalistenpoesie" und ähnliche Anschüttungen. Aber warum soll das eine das andere ausschließen? Warum sollen gelernte Ärzte, Pädagogen, Maschinenschlosser oder Studienabbrecher Schriftsteller werden können, ein Kritiker jedoch nicht? Hier, meine lieben beinahe-hirntoten Skeptiker, werden Mittel und Ziele verwechselt. Die Mittel - Sprache, Phantasie, Empathie - stehen nämlich jedem zur Verfügung. Die Ziele aber sind der Tod aller schlechten Literatur. Wer ein Ziel hat, ist schon verloren im Mittelmaß.

Ich sag's mal so: Warum war Friedrich Nietzsche zu Lebzeiten so unbedeutend? Nicht weil ihm die Mittel gefehlt hätten, Literatur zu verfassen, sondern weil es sein Ziel war, genial zu sein. Genialer als Wagner, an dem er sich immer messen wollte, wenngleich dessen Genialität aus heutiger Sicht auch nicht mehr nachvollziehbar ist. Aber gut, im späten 19. Jahrhundert war Wagner eben Kult, alle hielten ihn für genial, für den größten aller Deutschen. Nietzsche hielt sich bloß selbst für genial. Niemand sonst. Diese Diskrepanz zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung tut weh und kann zu zwanghafter Rivalität führen: "Ich greife nur Sachen an, die siegreich sind", heißt es in "Ecce Homo", "ich greife nur Sachen an, wo ich keine Bundesgenossen finden würde, wo ich alleine stehe - wo ich mich alleine kompromittiere". So macht man sich lächerlich und am Ende verrückt. Der Literatur erweist man damit keinen Dienst, höchstens den Herstellern von Psychopharmaka und den Papierfabrikanten, die sibirische Holzbestände aufkaufen müssen, um die Unterlage für Hunderttausende unveröffentlichte Romane liefern zu können.

Kulturjournalisten und Literaturkritiker verfügen über keine besseren und schlechteren Mittel als jeder andere, ihr Problem ist die zwanghafte Rivalität und die maßlose Selbstüberschätzung selbst dann, wenn es um nichts geht, als um die Ausbeutung der eigenen Phantasie. Schreiben ist Selbstüberwindung, weil all das, was man aus sich herausholen möchte, scheinbar gar nicht in einem drin ist. Das muss man erst einmal finden und zur Not erfinden, aber das Genie von eigenen Gnaden findet gar nichts und bringt natürlich nichts zu Papier. Das allerdings sehr wortreich.

Der Künstler ist immer schwach, der Kritiker per definitionem stark. Diesen Graben zu überspringen und auf beide Füße stehen zu kommen ist ein echtes Kunststück. "Wenn wir Talent besitzen", sagt Marcel Proust, "ruhen die schönen Dinge, die wir schreiben, in uns, undeutlich wie die Erinnerung an eine Melodie, die uns erfreut, obgleich wir nicht imstande sind, sie ins Bewusstsein zu rufen. Diejenigen, die von dieser verschwommenen Erinnerung an Wahrheiten besessen sind, welche sie nie erfahren haben, sind begnadet. Talent ist wie eine Art Erinnerung, die die Menschen schließlich in Stand setzt, diese undeutliche Musik in sich aufzunehmen, sie klar zu hören, sie niederzuschreiben."

Meine Rede seit dem 28. Februar 1961.