Schwarz, weiß, grau

Schwarzweißroman

Schwarz, weiß, grau ist Russland im Roman von Marion Poschmann. Nicht rot wie der Stern, die Revolution. Rot ist nur der Mantel der Protagonistin, eine junge Frau aus dem deutschen Ruhrgebiet, die ihren Vater in Magnitogorsk im Ural besucht.

In der russischen Avantgarde hatten Farbe und Form Suprematie, Übergewicht, gegenüber dem bloßen Abbilden der Welt der Gegenstände. Sie mussten aber bald schon der Gegenständlichkeit des "Sozialistischen Realismus" weichen. Im "Schwarzweißroman" feiern Farbe und Form eine Art Wiederauferstehung. Und das im Russland der 90er Jahre.

Die stets von inneren wie äußeren Bildern inspirierte Dichterin stellt ihrem Roman ein Zitat von El Lissitzky, einem Vertreter des Suprematismus, programmatisch voran. "Im Schwarz und im Weiß sowie im Grau sei das Kollektive zu erkennen", heißt es darin. In den Schwerindustrie-Alltag Russlands könne laut Lissitzky nur hartnäckiger Individualismus eine Farbe wie Rot hineinbringen.

Ein roter Fleck in der Schneelandschaft

Mehr als 80 Jahre hartnäckigen Individualismus später lässt Marion Poschmann, die in Berlin lebende und vor allem als Lyrikerin bekannte Autorin, ihre namenlose Protagonistin in einem roten Wollmantel die Erfahrung schwindender Individualität in genau diesem schwerindustriellen Russland machen. Alles andere als hartnäckig aber erleben wir die Protagonistin gegenüber der Erfahrung des Selbst- und Wirklichkeitsverlusts inmitten jener Allpräsenz von Schwarz, Weiß und Grau.

Bereits im "Luftraum", wie das erste der 30 Kapitel heißt, während des Flugs von Deutschland über Moskau nach Magnitogorsk erscheint ihr die Umwelt ergraut.

Ich hatte nicht bemerkt, wie die Lachsfarbe der Haut verschwand, wie alle Konturen im Grau versackten (...) als handele es sich bei meinem Fleisch um widerstandsloses Material, das alles mit sich machen ließ.

Dann in Magnitogorsk angekommen: das Werk, ein schwarzer Gigant, wichtigster Waffenproduzent Russlands im Zweiten Weltkrieg, von keinem Punkt der Stadt aus zu übersehen, inmitten einer eisigen Schneelandschaft, und der Vater, der wie eh und je frühmorgens ins Werk muss, damit "die Welt ihre Ordnung behielt". Mehr und mehr werden wir in die Schneelandschaft hineingezogen, in der das Wetter zum kafkaesken Universum wird, in dem der freie Wille des Individuums wenig bewirkt.

Widerstandsloses Sich-treiben-lassen

Im roten Mantel treibt die Protagonistin als widerstandsloses Material von einem Mann zum anderen. Die meisten der Männer sind Arbeitskollegen des Vaters. Einer von ihnen, Albert, der versucht ein echter Russe zu werden, beschreibt seinen Wirklichkeitsverlust als "Rußlandkoller" - "unvermeidlich" meint er zur Protagonistin, die gar nicht erst beginnt, etwas dagegen zu unternehmen. Albert scheitert. Erfriert im Schnee. Voll mit Wodka.

Ein weiterer Protagonist verschwindet, weil er das Warten nicht mehr erträgt. Der Baustellenchef selbst ist es. Lakonisch kommentiert die junge Frau sein Verschwinden, registriert sie ihr eigenes Verschwinden im grauen Chaos. Zwischen die kühle Ich-Prosa, die manchmal ins völlig unterkühlte man wechselt, drängen sich lyrische Beschwörungsformeln in Du-Form. Soll damit dem "Heißmangel", wie das 7. Kapitel des Romans lautet, entgegen gewirkt werden?

Da gibt es dann auch noch die "Es war einmal"-Geschichten, in denen die Erwachsenen sich ihre Lebensgeschichten als Märchen erzählen. Denn ihre wahre Vergangenheit scheint allen nach Russland Gegangenen schon lange davor abhanden gekommen zu sein. So auch dem Vater, ein gegen Kriegsende von den Russen verschlepptes Kind.

Schweigende Vater-Tochter-Beziehung

Nicht die Empfangsdame Ludmilla, mit der zu allen Tages- und Nachtzeiten Tee getrunken werden kann, noch der todkranke Musiker Konstantin mit der kommunistischen Großmutter können das Eis brechen, das die junge Frau umgibt und das sich gegen Ende des Buches als das Schweigen zwischen Tochter und Vater enthüllt. Bis in die verbotene atomare Zone von Tscheljabinsk lässt Poschmann die beiden vordringen, in einer absurd anmutenden Vater-Tochter-Wandertagsszene, ohne dass sie dieses Schweigen durchdringen könnten. Ein wenig salopp ist plötzlich von einem Biografieloch die Rede, dem die junge Frau durch ihre Reise entfliehen wollte. Und dann wird es wieder lyrisch:

Meine Biografie interessierte mich nicht mehr. Ich hatte Sehnsucht nach Kometen.

Mehr als das Wort Sehnsucht selbst aber vermögen Poschmanns Sprachlandschaften Kometen in der Ferne sehen machen.

Hör-Tipp
Ex libris, jeden Sonntag, 18:15 Uhr

Download-Tipp
Ö1 Club-Mitglieder können die Sendung nach Ende der Live-Ausstrahlung im Download-Bereich runterladen.

Buch-Tipp
Marion Poschmann, "Schwarzweißroman", Frankfurter Verlagsanstalt, ISBN 3627001249