Forscherdrang ist angeboren
Weltwunder
Das Interesse am Erforschen der Natur, an Donnerwettern, Wolkenhimmeln oder den Rätseln der Schwerkraft, ist kein Merkmal besonders Begabter. Es ist allen Kindern, ja auch Säuglingen eigen, behauptet Donata Elschenbroich in ihrem neuen Buch.
8. April 2017, 21:58
Auch wenn "elementare Physik" für viele Erwachsene ein Fremdwort ist, viele Menschen geradezu naturwissenschaftliche Analphabeten sind und auch Schulkinder - siehe PISA-Studie - nicht nur in Deutschland über verheerend geringe Sachkenntnisse in Biologie oder Physik verfügen, so waren wir doch einst alle von einem genuinen Hang zur Natur- und Weltbefragung bestimmt. "Am Anfang des Lebens ist bereits mehr Wissen über die physische Welt vorhanden, als man lange Zeit erkannt hat", sagt Donata Elschenbroich, Expertin für Kindheitsforschung und Bildung in frühen Jahren, für die Säuglinge und Krabbelkinder "die begabteste und lernmotivierteste Population unserer Bevölkerung" sind.
Neugier siegt
Der acht Monate alte Max kann kaum stehen, aber er will doch wissen, was in der Schachtel auf dem Sofa ist. Nur mit größter Anstrengung gelingt es ihm, die Schachtel zu sich herzuziehen. Max hat Schwerarbeit zu leisten, aber er ist neugierig, "er hat eine Frage an eine Schachtel", so Elschenbroich.
Wie Max machen es auch andere: Sie nehmen Dinge in die Hand oder in den Mund, prüfen und wiegen sie, vergleichen und sortieren, sie stellen Zusammenhänge her und Kausalitäten. Sie sind nicht einfach nur neugierig, sie wollen die Dinge "begreifen" - im handfesten wie im bildlichen Sinn. Sie testen Materialeigenschaften und prüfen die Reaktionen der Erwachsenen.
"Schon Säuglinge bilden Kategorien und nutzen sie als Basis für induktive Schlüsse, spätestens gegen Ende des ersten Lebensjahrs sind die Konzepte von Säuglingen wissensbasiert", sagt Donata Elschenbroich. "Diesen mikroskopischen Blick, der gar nicht sehr analytisch ist, dem das Schauen und das Festhalten des Geschauten wichtig ist, den kann ich bei manchen Kindern erkennen. Ich finde, man sollte diese Art des Naturforschens auch wertschätzen."
Weiter Bogen
In ihrem nicht nur für Eltern und Pädagogen höchst lesenswerten Buch spannt Donata Elschenbroich den Bogen von der "intuitiven Physik" im Säuglingsalter bis zum Projekt von "Weltwissenskursen" für Eltern und Kinder, vom Naturbild in der Barocklyrik bis zu naturwissenschaftlichem Wissen in Sprichwörtern und Redensarten.
Sie richtet in ihrem Kapitel über "naturwissenschaftliche Alphabetisierung" den Blick auch auf Frankreich, wo ein Programm zur Einführung ins naturwissenschaftliche Denken im Kindergarten- und Grundschulalter initiiert wurde und ein Internetangebot zur Beratung naturwissenschaftlicher Aktivitäten mit Kindern existiert. Und auch China wird berücksichtigt, wo Kinder als Kapital betrachtet und einem Erziehungs- und Bildungsdrill ausgesetzt werden, der schon im Säuglingsalter greift, wie beim Oriental Baby Care - von der Autorin als pädagogische "Überbeschleunigung" gerügt.
Säuglingsforscher und Kernphysiker
Elschenbroich greift auf zahlreiche Gespräche zurück, die sie in ihrem Buch referiert: Gespräche, die sie mit Säuglingsforschern und Psychologen führte, mit Erziehungswissenschaftlern und Hirnforschern, Kernphysikern und Wissenschaftshistorikern, Journalisten, Lehrern und Erfindern - und liefert, wie sie sagt, "erste Ausleger in Felder, in denen Fachleute aller Art weiterarbeiten werden".
Die Entwicklung kindlichen Wissens ist noch ein junges Forschungsgebiet der kognitiven Entwicklungspsychologie. Und noch wird darüber gestritten, ob "das Grundwissen über kausale, funktionale oder strukturelle Eigenschaften von Objekten" angeboren ist oder sich im Laufe des ersten Lebensjahrs entwickelt.
Kaum haltbar jedoch dürften die Vorstellungen eines Jean Piaget sein, der zwischen dem Wissenserwerb von Kindern und dem von Erwachsenen grundsätzliche Unterschiede erkannt zu haben glaubte; kaum haltbar offenbar auch die Vorstellung Freuds, der die Welt des Säuglings mit einer Traumwelt verglich, in der nicht unterscheidbar sei, was in der Welt und was im eigenen Kopf vorgeht.
Praktische Aspekte
Nicht nur wissenschaftsbezogene Aspekte interessieren Donata Elschenbroich, auch praktische, pädagogische. Schließlich gilt es Alternativen zu finden zur herkömmlichen Wissensvermittlung, die ein Interesse an Naturwissenschaften eher lähmt als fördert.
"Die Erwachsenen sollten mehr Sicherheit bekommen, sich selbst zusammen mit den Kindern auf die Suche zu machen", findet Elschenbroich. "Kinder erwarten auch gar nicht richtige Anworten oder Wissen. Sie fühlen sich sehr wahrgenommen, wenn die Erwachsenen rätseln. Sich dabei wohl zu fühlen, ist eine Erfahrung, die ganz wichtig ist, weil es ja lebenslang mehr ums Fragen und Suchen geht, als um das schnelle Abrufen von ein paar Fakten."
Hör-Tipp
Kontext, jeden Freitag, 9:05 Uhr
Download-Tipp
Ö1 Club-Mitglieder können die Sendung nach Ende der Live-Ausstrahlung im Download-Bereich runterladen.
Buch-Tipp
Donata Elschenbroich, "Weltwunder. Kinder als Naturforscher", Kunstmann Verlag, ISBN 3888973988