Zwei Menschen in der Schwebe

Adam und Evelyn

Ingo Schulze siedelt seinen Roman kurz vor dem Fall des Eisernen Vorhangs an. Adam und Evelyn müssen sich entscheiden: in den Westen gehen oder im Osten bleiben. Das Buch vereint komische und tragische Elemente, die diesen Schwebezustand begleiten.

Um eine Zeit im Schwebezustand geht es in Ingo Schulzes neuem Roman "Adam und Evelyn": Es ist Spätsommer 1989, kurz vor dem Fall des Eisernen Vorhangs. Der Damenschneider Adam liebt seine Freundin Evelyn, was ihn aber nicht davon abhält, seine Kundinnen zu verführen. Kurz vor einem gemeinsamen Ungarn-Urlaub ertappt Evelyn ihn in flagranti und macht sich statt mit Adam mit einer Freundin und deren Westcousin auf den Weg zum Balaton. Adam folgt ihnen in seinem rot-weißen Wartburg, begleitet von Evelyns Schildkröte und Katja, die er unterwegs aufliest und die aus dem Osten fliehen will. In Ungarn angekommen stellt sich heraus, dass die Grenze zum Westen geöffnet werden soll, und plötzlich lockt die Versuchung.

Nicht ganz von ungefähr verknüpft Ingo Schulze seine Geschichte mit dem biblischen Sündenfall: "Diese Idee hat mich fasziniert; irgendwann fand ich dann raus, dass Adam und Eva die Schutzheiligen der Schneider sind, weil sie die ersten Menschen sind, die Kleider getragen haben, die hat dann auch noch der Herrgott selbst für sie angefertigt", so Ingo Schulze im Gespräch. "Für mich war natürlich auch diese Wahlmöglichkeit interessant, die sich plötzlich ergab."

Ein neues Leben aufbauen

Der Urlaub am Plattensee wird zu einer Zeit der Entscheidung. Evelyn möchte in den Westen, sie will studieren, sich ein neues Leben aufbauen und nicht länger gezwungen sein, als Kellnerin zu arbeiten, weil sie keinen Studienplatz bekommt. Adam hingegen zögert, schiebt auf, will sein gewohntes Dasein nicht so einfach aufgeben und lässt sich nur mühsam überreden.

Ingo Schulze arbeitet vor allem mit ausgedehnten Dialogen, in denen er die innere Zerrissenheit seiner Figuren darstellt, die das Prosageschehen in den Hintergrund rücken.

Kein Glück im Westen

Schließlich siegt Adams Liebe zu Evelyn und er folgt ihr in den Westen. Über Österreich gelangen die beiden nach München, wo sie Katja wieder treffen und Evelyn die ungewohnten Freiheiten genießt. Nur Adam findet keinen rechten Halt. Niemand braucht einen Damenschneider, denn die Leute kaufen ihre Kleidung von der Stange, und Evelyn beobachtet besorgt, wie Adam immer ruheloser wird. Schließlich kehrt er tatsächlich in die alte Heimat zurück, aber auch dieser Versuch misslingt, und wieder in München berichtet er Evelyn von seinen Erfahrungen.

Sie hatte Adams Bericht erst einmal gehört, aber was er erzählte, war ihr so vertraut, als hätte sie alles selbst erlebt. Sie sah all das vor sich, woran sie schon nicht mehr gedacht hatte, weil es kein Wiedersehen geben würde: Die Pforte, den Garten, das Haus, die drei Stufen hinauf zur Tür, sie hörte den Klebestreifen des Siegels reißen und spürte die Kälte, die Adam entgegenschlug. Auch sie war überrascht von dieser Kälte. Die Tür zur Gästetoilette stand offen. Die Waschmaschine fehlte. Die Scheibe in der Tür zum Flur hatte einen Sprung. Wie dunkel es plötzlich wurde, als er die Haustür hinter sich schloss. Den Kühlschrank und den Herd hatten sie weggeschleppt, die Scherben des Geschirrs bedeckten wie bei einem Polterabend die Fliesen, sodass sie an der Küchentür stehen bleiben musste. Auch die Mischbatterie an der Spüle war herausgerissen, an den Vorhängen und an der Wand waren Brandspuren.

Wechselnde Perspektive

Fast unmerklich verändert sich im Verlauf des Buches die Erzählperspektive. Ist es zu Beginn noch Adam, der im Mittelpunkt des Geschehens steht, so wird am Ende Evelyns Sichtweise bestimmend: "Eigentlich macht dieses ganze Buch eine Bewegung durch", so Schulze. "Es beginnt in Adam, schraubt sich dann heraus aus diesem Adam und wird ganz Dialog-lastig, also es wird quasi zu einer Art Drehbuch. Am Ende geht es wieder zurück in Evelyn hinein, also der Standpunkt wechselt, während man liest, und man befindet sich sozusagen in der Mitte."

Auch für Ingo Schulze selbst hat die Arbeit an seinem Roman einige neue Erfahrungen gebracht. Zwar erlebte er die damalige Zeit im Osten mit, aber sein Buch ist dennoch nicht autobiografisch. Vielmehr hat er versucht, eine Außenansicht zu gewinnen, und ist dabei auf einige auch für ihn unbekannte Betrachtungsweisen gestoßen: "In vielen Interviews und Dokumentarfilmen trat etwas ganz Interessantes zutage: dass Leute, die weggegangen sind, die ja wirklich etwas hinter sich gelassen haben, dass die - ich will jetzt nicht sagen enttäuscht waren vom Mauerfall, aber für die war es so eine Situation, na ja, wir sind jetzt weg und die anderen, denen fällt das praktisch in den Schoß."

Innenansicht von damals

Ingo Schulze lässt eine wechselvolle Zeit wieder aufleben, in einem Buch, das komische und tragische Elemente vereint und das dem Leser eine eindrucksvolle Innenansicht der damaligen Akteure, ihrer Hoffnungen und ihrer Ängste gewährt: "Es hat so eine Kontrastmasse, die jemand, der im Westen groß geworden ist, gar nicht haben kann. Diesen Vergleich, wie jemand erst da lebt und dann dort lebt, das finde ich schon interessant, die einen blühen auf, die anderen gehen ein. So was sagt, glaube ich, auch sehr viel über unsere heutige Welt."

"Das Buch der Woche" ist eine Aktion von Ö1 und Die Presse.

Hör-Tipps
Kulturjournal, Freitag, 8. August 2008, 16:30 Uhr

Ex libris, Sonntag, 10. August 2008, 18:15 Uhr

Mehr dazu in oe1.ORF.at

Buch-Tipp
Ingo Schulze, "Adam und Evelyn”, Berlin Verlag

Link
Berlin Verlag - Adam und Evelyn