Gisela May - Schauspielerin und Diseuse
May im Jänner
Gisela May gilt als bekannteste und kompetenteste Brecht-Interpretin. Selbst bezeichnet sie sich als "singende Schauspielerin". Drei Jahrzehnte gehörte sie zum Berliner Ensemble, wo sie besonders als Mutter Courage zehn Jahre lang Triumphe feierte.
8. April 2017, 21:58
Gisela May interpretiert Erich Kästners "Januar"
"Niemand hat mich entdeckt. Mein künstlerischer Weg ging unsensationell, mühsam und langsam bergan, sagt Gisela May rückblickend. Die Grand Dame des deutschsprachigen Chansons gilt als bekannteste und kompetenteste Brecht-Interpretin. Mittlerweile ist sie 81 Jahre alt und kann auf eine erfolgreiche Karriere sowohl als Schauspielerin als auch als Sängerin zurückblicken.
Die singende Schauspielerin
Einer Definition von Bertold Brecht folgend, bezeichnet sich Gisela May selbst als "singende Schauspielerin; das heißt, sie blieb Schauspielerin, auch wenn sie sang.
Geboren wurde sie 1924 in Wetzlar in ein politisch links orientiertes Elternhaus. Der Vater war Schriftsteller, die Mutter Schauspielerin. Ihr Weg zur Künstlerin war also erblich vorbelastet. Ihre Schauspielausbildung bekam sie in Leipzig, erste Theaterengagements noch während des Zweiten Weltkriegs in Dresden, Danzig und Görlitz. Sie wurde auch Mitglied der Ost-Berliner Einheitspartei SED und in der Folge Gewerkschafterin.
Als Sängerin entdeckte sie Hanns Eisler in Berlin. Nachdem er sie das erste Mal gehört hatte, sagte er in seiner nach wie vor Wiener Mundart: "Des sollten's weitermachen". In der Folge war May drei Jahre lang Schülerin von Eisler. Aber die Brecht-Lieder sang damals noch vor vollen Häusern Lotte Lenya und die großen Frauenrollen Brechts am Theater verkörperte Helene Weigel - zwei übermächtige Konkurrentinnen.
Eigene Liederabende
In eigenen Programmen trug Gisela May schon in jungen Jahren Chansons, politische Songs und Gedichte vor; später gastierte sie in vielen Ländern Europas, auch in den USA und in Australien. Unter anderen interpretierte sie damals auch Werke von Frank Wedekind oder Friedrich Holländer - eine Größe im Berliner Kabarettleben der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen.
In den 70er Jahren ging die May auch gern mit Texten eines Autors aus der Weimarer Republik auf die Bühne des Ost-Berliner Kabaretts "Die Distel": Walter Mehring war damals Mitarbeiter der Zeitschrift "Weltbühne", dessen prominentester Autor Kurt Tucholsky war. Er übersetzte Lieder der französischen Revolution ins Deutsche und schrieb Texte gegen Militarismus, Antisemitismus, Pfaffentum.
Die Brecht-Interpretin
Erst im Alter von 38 Jahren wurde Gisela May Mitglied des von Bertold Brecht gegründeten berühmten Berliner Ensemble im Theater am Schiffbauerdamm. May hatte es anfangs schwer, sich gegenüber ihren berühmten Kolleginnen durchzusetzen. Erst 16 Jahre später, 1978, übernahm sie die Rolle, für die sie am Populärsten wurde, nämlich die Mutter Courage im gleichnamigen Stück von Brecht und Dessau. Diese Rolle behielt sie auch dann bis Anfang der 90er Jahre.
Lieder von Brecht und Dessau hat sie allerdings schon in den frühen 1960er Jahren gesungen. Dass sie auch Texte von Kurt Tucholsky, Erich Kästner oder Heinrich Heine sang, ist weniger bekannt.
Chansons von Jacques Brel
1978 war auch das Jahr, in dem der belgische Chansonier Jacques Brel - noch keine 50 Jahre alt - starb. Im Jahr darauf nahm Gisela May ihr erstes Jacques-Brel-Album auf. Auf die Idee dazu brachte sie übrigens Michael Heltau. Von ihm hörte sie erstmals Brel in Deutsch gesungen.
In einem späteren Interview meinte May, sie hätte sich bei den Brel-Einspielungen vielleicht etwas mehr reinschmeißen sollen, andererseits sei sie empfindlich gegen Sentimentalität und deshalb lieber etwas spröder. Einen der berühmtesten Titel, den die Grand Dame des deutschsprachigen Chansons von Brel interpretierte, war "Amsterdam". Den deutschen Text dazu hat übrigens Werner Schneyder geschrieben.
Sag doch nicht immer Mutti zu mir
Bis 1992 war Gisela May noch Mitglied des Berliner Ensembles, dann wurde sie "abgewickelt" und fiel nach eigenen Worten "in ein tiefes Loch". Schließlich bekam sie eine Fernseh-Rolle als Mutter in der Serie "Adelheid und ihre Mörder", wo sie mehrfach durch einen oft wiederholten Satz auffiel: "Sag doch nicht immer Mutti zu mir".
So weit kann es das Fernsehen mit jemandem bringen, der von Ost und West oft und oft gewürdigt wurde. 1980 erhielt sie nämlich neben vielen anderen Auszeichnungen u. a. auch den Vaterländischen Verdienstorden der DDR, 1991 das Filmband in Gold gemeinsam mit Ilse Werner und Harald Juhnke, 2000 den Verdienstorden des Landes Berlin und schließlich 2004 das Bundesverdienstkreuz.
Kürzlich sind von der First Lady des deutschsprachigen Chansons acht CDs, eine DVD und ein großes Buch erschienen, wo man alles, was es von der mittlerweile 81-Jährigen gibt, hören, sehen und nachlesen kann.
Hör-Tipp
Spielräume Spezial, Sonntag, 1. Jänner 2006, 17:10 Uhr
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Gisela May