Spezielles Totengedenken

Das Museum der Stille

Ein abgelegenes Provinznest, merkwürdige Menschen, ein eigenartiger Auftrag: All das begegnet dem Protagonisten in Yoko Ogawas neuem Roman. Die Autorin erschafft damit eine faszinierende Welt, aus der man als Leser nie ausbrechen will.

Ein junger Mann und ein merkwürdiger Auftrag. In einem abgelegenen Provinznest soll er ein Museum einrichten. Sowohl der Auftraggeber, als auch der Inhalt der ständigen Einrichtung sind ihm zunächst unbekannt. Aber als leidenschaftlicher Experte für Privat-Museen ist er an exzentrische Geldgeber gewöhnt. Als er am Bahnhof von einem jungen und ebenso hübschen wie rätselhaften Mädchen abgeholt wird, ahnt er bereits, dass es sich diesmal um ein ganz besonderes Vorhaben handelt.

Die meisten Leute assoziieren mit dem Wort Museum einen düsteren, langweiligen Ort und sind nicht dazu bereit, ihre Vorstellungskraft darüber hinaus zu bemühen. Das Mädchen indes war so hingerissen, als handle es sich bei einem Museum um ein geheimnisvolles Paradies in einem fernen Land.

Knorrige alte Dame

Der Weg führt zu einer verfallenen Villa außerhalb des Dorfes. Die unumschränkte Herrscherin des Anwesens und resolute Auftraggeberin ist eine schrullige alte Dame, die ihre schroffen Befehle zumeist durch die zielgerichteten Bewegungen ihres knorrigen Gehstocks unterstreicht. Weitere Anwesende sind der ebenso freundliche wie muskulöse Gärtner und seine Frau, die Haushälterin. Sie alle leben und arbeiten für ein großes Ziel: das "Museum der Stille", dessen Sinn und Zweck die sonderbare Greisin so erklärt:

"Ich habe mir vorgenommen, mir jedes Mal, wenn im Dorf jemand stirbt, einen persönlichen Gegenstand des Verstorbenen anzueignen. Ich suche ein Zeugnis für die zweifelsfreie Existenz einer Person, das möglichst lebendig und naturgetreu an sie erinnert. Ohne einen solchen Gegenstand bleibt ihr Tod für alle Ewigkeit unvollendet, und all die Jahre ihres Lebens hätten damit ihren Sinn verloren."

Die wahre Herausforderung

Ein Museum also, das nichts als Alltagsgegenstände von Verstorbenen enthält: die Heckenschere eines Gärtners, das Skalpell eines Arztes oder das Diaphragma einer Prostituierten. Die Aufgabe des jungen Mannes besteht nun darin, die bereits über Jahrzehnte gesammelten Stücke zu erfassen, zu ordnen und sie nach allen Regeln der Wissenschaft zu katalogisieren. Danach gilt es, diese Stücke mit der dazupassenden Biografie der Verstorbenen beziehungsweise der Geschichte der Gegenstandsbeschaffung zu versehen.

Die wahre Herausforderung für den jungen Helden besteht aber in der Beschaffung neuer Relikte, denn natürlich gibt es auch während seines Aufenthaltes im Dorf Tote zu beklagen. Nicht nur das Aussuchen eines passenden Gegenstandes ist der strengen Auftraggeberin dabei wichtig, sondern natürlich auch, bei der Aneignung desselben nicht erwischt zu werden. Gerade diese illegale Jagd lässt ihn von Fall zu Fall immer näher an seine anmutige junge Gefährtin, das blasse Mädchen, rücken.

Durch unsere Leidenschaft für die Erinnerungsstücke waren wir unzertrennlich miteinander verbunden. Solange die Suche nach Erinnerungsstücken und ihre Bewahrung unser gemeinsames Ziel war, würde keiner von uns über den Rand stürzen oder von der Finsternis verschluckt werden.

Wunderbar poetisch und seltsam morbid

Zusätzliche Spannung erfährt die wunderbar poetisch und zugleich seltsam morbide Geschichte durch eine mysteriöse Mordserie. Der Leiter des "Museums der Stille", der unheimliche Fremde, der von Dorfbewohnern nicht selten in der Nähe von Verstorbenen gesichtet wurde, gehört naturgemäß zum inneren Kreis der Verdächtigen.

Die 43-jährige Yoko Ogawa, die sich vor allem mit ihren Romanen "Hotel Iris" und "Liebe am Papierrand" in die Riege der bemerkenswertesten japanischen Autoren geschrieben hat, erschafft auch in ihrem neuen Roman eine stilistisch eigenständige, faszinierende Welt, aus der man als Leser, obwohl sie so fremdartig ist, nie ausbrechen will.

Yoko Ogawa, "Das Museum der Stille", aus dem Japanischen übersetzt von Ursula Gräfe und Kimiko Nakayama-Ziegler, Liebeskind Verlag, ISBN 3935890311