Der ehemaliger Generalsekretär der CDU
Heuschreckenkapitalismus
Ende der 1970er Jahre verkündete seine Partei der Slogan "Freiheit statt Sozialismus". Heute, nach dem Ende des Kalten Krieges, scheint dem ehemaligen CDU-Politiker Heiner Geißler ein anderer Grundwert massiv gefährdet zu sein: die Solidarität.
8. April 2017, 21:58
Heiner Geißler im Gespräch mit Michael Kerbler
Michael Kerbler: Als im Jahr 1989 das kommunistische Staatensystem implodiert ist, war der Jubel groß: Endlich ist diese Art des Systems weg, und der Kapitalismus hat gewonnen. Warum ist die Fangemeinde des Kapitalismus seitdem geschrumpft? Was ist da passiert, dass ihn selbst die Befürworter mittlerweile durchaus auch als Bedrohung empfinden?
Heiner Geißler: Ich habe eher den Eindruck, dass es vor allem unter Wirtschaftswissenschaftlern nach wie vor Anhänger des kapitalistischen Systems gibt. Es war von vornherein eine falsche Beurteilung der Ereignisse von 1989. Da hat ja nicht der Kapitalismus gesiegt, sondern die Ideen der Freiheit, der Gerechtigkeit und auch der Solidarität haben gesiegt.
Die Deutschen, die in Ostberlin oder in Leipzig auf die Straße gegangen sind, die haben gerufen "Wir sind das Volk!". Das war ein Ruf nach Demokratie. Natürlich gehört dazu auch Solidarität und Gerechtigkeit. Und natürlich haben sie auch besser leben wollen. Auch völlig zu Recht. Aber der Kapitalismus hat erst von dem Zeitpunkt an gesiegt - zumindest in Ostdeutschland, danach auch in Russland -, er hat seine hässliche Fratze gezeigt, als man darauf verzichtet hat, soziale Marktwirtschaft zu machen. Weil man den Staat aus der Verantwortung für die Wirtschaftspolitik entlassen hat.
Wenn der soziale Aspekt wegfällt, wie viel bleibt dann noch an Freiheit übrig?
Da haben Sie völlig Recht mit dieser Frage, deswegen war diese Aussage von Angela Merkel - die im Übrigen ja einen guten Start gehabt hat, was man ihr auch wünschen muss -, ihre zentrale Aussage "mehr Freiheit wagen", das war nicht die richtige Parole. Denn die Freiheit ist heute nicht mehr der gefährdete Grundwert. Als ich im Jahr 1977 Generalsekretär wurde, da haben wir die Freiheit sogar zu einem Slogan gemacht "Freiheit statt Sozialismus". Die Freiheit war in der Tat gefährdet. Wir lebten im Kalten Krieg, und mitten in Deutschland diese Zonengrenze, die von vielen als eine Bedrohung aufgefasst worden ist.
Das ist längst beseitigt, aber heute ist ein anderer Grundwert massiv gefährdet, nämlich der Grundwert der Solidarität. Solidarität zwischen Reichen und Armen, zwischen Jungen und Alten, Alten und Jungen, Männern und Frauen, Deutschen und Ausländern, Österreichern und Ausländern. Die Solidarität zwischen Menschen und Natur, um das noch hinzuzufügen. Die Solidarität ist massiv gefährdet, nicht nur in Europa, sondern auf der ganzen Erde. Und dieser Grundwert für das Zusammenleben der Menschen wird am meisten gefährdet durch diese brutale Form des Kapitalismus.
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