Milo Dor und Dubravka Ugresic, zwei Brückenbauer

Der Tod hat mehrere Seiten

Jugoslawien wurde zum verbotenen Wort, das einstige Wertesystem über Nacht geändert. Milo Dor, jüngst verstorben, war ein großer Brückenbauer zwischen den Kulturen und Völkern. Dubravka Ugresic zeigt auf, warum diese Brücken oft nur einseitig funktionierten.

Der Schriftsteller Milo Dor ist am Montag, 5. Dezember 2005 gestorben. Alle österreichischen Medien haben Nachrufe veröffentlicht, Radio und Fernsehen haben dem Schriftsteller Sendungen gewidmet. In allen Erinnerungen und Kommentaren ist ein Grundton zu hören: "Er war ein wichtiger Vermittler über Sprachgrenzen hinweg", so bezeichnete ihn Bundeskanzler Wolfgang Schüssel.

Dor habe "mit seiner Liebenswürdigkeit viele Brücken zwischen Österreich und den Balkanländern aufgebaut" und aus seinen Büchern "hat Österreich die tragische Geschichte Jugoslawiens in den Jahren der nationalsozialistischen Okkupation erschreckend lebendig geschildert bekommen."

Auf der anderen Seite der Brücke

Milo Dor war nicht nur ein österreichischer Schriftsteller, er war auch ein unermüdlicher Übersetzter der südslawischen Literatur. Die Liste der von ihm übersetzten Werke ist mindestens so lang, wie die Liste seiner eigenen Bücher. Doch über seinen Tod wurde in Ländern, aus deren Sprachen er übersetzt hatte, nur kurz berichtet. Viele Zeitungen haben überhaupt nichts geschrieben.

Es ist mir nicht bekannt, wie und ob die TV-Stationen und Radiosender reagierten, aber jene, die seinen Tod meldeten, haben sich angeblich auf die Nachricht der News Agentur begrenzt und nur eine kurze Biographie gebracht. Dass Dor die Literatur jener Staaten im deutschsprachigen Raum verbreitet hat, wurde kaum erwähnt.

"Letzte funktionierende jugoslawische Institution"

Wieso ist der Tod "eines wichtigen Vermittlers" nur auf einer Seite "der Brücke" "übersehen" worden? Wie kann es passieren, dass eine so wichtige Arbeit für die eigene Kultur totgeschwiegen wurde? Die neu erstandenen Staaten wollten sich vom "jugoslawischen" Erbe befreien. "Jugoslawien" ist, wie das Dubravka Ugresic präzis ausdrückt, für die neuen nationalbewussten Länder ein "verbotenes Wort".

Die Sprache, Kroatoserbisch oder Serbokroatisch - abhängig davon, von welcher Seite sie bezeichnet wird -, existiert nicht mehr. Und gerade aus dieser ausgestorbenen Sprache hat Milo Dor die meisten seiner Übersetzungen geschaffen. "Als Übersetzer und literarischer Kundschafter hat er viele jugoslawische Autoren im deutschen Sprachraum bekannt gemacht; als Jugoslawien blutig zerfiel, war seine Wohnung in Wien, in der kroatische, serbische und bosnische Schriftsteller aus- und eingingen, so etwas wie die letzte funktionierende jugoslawische Institution", schrieb nach seinem Tod Karl Markus Gauss in der "Presse". Seine schöne Idee des Zusammenlebens war gleichzeitig ein Verhängnis.

Im "freiwilligen" Exil

Milo Dor versuchte, eine Brücke zwischen den Kulturen und Völkern zu schaffen. Die Schriftstellerin Dubravka Ugresic, im ehemaligen Jugoslawien in Kroatien geboren, beschreibt in ihren Romanen und Essays, warum diese Brücken oft nur in eine Richtung funktionieren. Dor ist aus Jugoslawien geflohen und hat sein neues Leben in Wien gefunden. Er schrieb sogar in Deutsch.

Dubravka Ugresic dagegen schreibt noch immer, wie sie selber sagt, in einer nicht existierenden Sprache, in Kroatisch oder Serbisch oder sogar Bosnisch - vielleicht in Kroatoserbisch oder Serbokroatisch. Wegen ihrer unbarmherzigen Kritik an den auf den zerfallenen Resten von Jugoslawien neu entstandenen Gesellschaften wurde sie gezwungen, "freiwillig" ihr Domizil in das "neutrale" Amsterdam zu verlegen. Von dort aus schreibt sie Bücher in ihrer Sprache und reist um die Welt. Als qualifizierte Slawistin lehrt sie zeitweise an Universitäten und macht Literatur-Lesungen.

Brückenbauer Dor und Ugresic

Im Rahmen ihrer ständigen Reisen kommt Ugresic am 14. Dezember nach Wien: In der Alten Schmiede wird sie ihr neues Buch "Das Ministerium der Schmerzen" vorstellen. Milo Dor und Dubravka Ugresic, jeder auf seine Weise, teilten den Wunsch, die verschiedenen Kulturen näher zu bringen. Und beide sind dabei auf Schwierigkeiten gestoßen.

Milo Dor war sich bewusst, wie hart und manchmal aussichtslos seine Versuche waren. In seinem Essayband "Grenzüberschreitungen" fragte er sich: "Wie viele Grenzen der Vernunft, des Anstands und der Moral müssen noch überschritten werden, damit die Menschen zu einer humanen Haltung gelangen, die sie daran hindert, aus verworrenen Gründen einer trüben, fadenscheinigen nationalistischen Ideologie das Leben ihrer Mitmenschen auszulöschen?"

Service

Dubravka Ugresic, "Das Ministerium der Schmerzen", aus dem Kroatischen von Barbara Antkowiak und Mirjana und Klaus Wittmann, Berlin Verlag, 2005, ISBN 3827005620

Dubravka Ugresic, "Lesen verboten", aus dem Kroatischen von Barbara Antowiak, Suhrkamp, 2002, ISBN 3518413155

Dubravka Ugresic, "Das Museum der bedingungslosen Kapitulation", aus dem Kroatischen von Barbara Antkowiak, Suhrkamp, 1998, ISBN 3518409735

Dubravka Ugresic, "Die Kultur der Lüge", aus dem Kroatischen von Barbara Antowiak, Suhrkamp, 1995, ISBN 3-518-11963-X

Dubravka Ugresic, "My American Fictionary", aus dem Kroatischen von Barbara Antowiak, Suhrkamp, 1994, ISBN 351811895-X

Dubravka Ugresic, "Der goldene Finger", aus dem Serbokroatischen von Nadja Grbic, Suhrkamp, ISBN 351839651X

Links
Die Presse - Milo Dor: Ein Patriot des größeren Wien
Literaturlandschaft Österreich - Milo Dor
Literaturhaus - IG Autorinnen Autoren
Alte Schmiede
Berlin Verlag
Suhrkamp