Von Uruk bis New York

Der Moloch

"Stadtluft macht frei", sagten die geknechteten Menschen des Mittelalters. Heute hört man oft, dass die Stadt eher ein Ort der modernen Sklaverei geworden ist. Geblieben ist, dass die Stadt ein literarisches Sujet par excellence darstellt.

Die Geistesgeschichte der Menschheit hat sich - von sehr wenigen Ausnahmen abgesehen - in Städten ereignet. Schon die ersten antiken Hochkulturen in Ägypten und im Zweistromland von Euphrat und Tigris waren durch die Entstehung von Städten sowohl verursacht als auch geprägt.

Das erste bekannte literarische Erzeugnis des Homo Sapiens, das "Gilgamesch-Epos", wurde in einer mesopotamischen Stadt, in Uruk, geschrieben und spielt zu einem großen Teil in ihr. Es handelt vom Gegensatz zwischen der städtischen Kultur und der Natur, in die sie hinein gebaut wurde, aus der heraus sie sich mit ihren Gebäuden, ihren Festungen, Lagern und Häusern erhebt.

Menschsein und Leben in der Stadt

Stadt ist gleich Zivilisation - diese Gleichung stimmte schon zu Uruks Zeiten, und Enkidu, der aus Lehm und Ton erschaffene Freund und Gefährte Gilgameschs, repräsentiert im "Gilgamesch-Epos" das Gegenteil, das Wilde und Unberechenbare, das gezähmt werden muss. Seine Bändigung, seine Vergewaltigung zur städtischen Kultur ist die heute wohl berühmteste Szene des Epos.

Die Hauptrolle darin spielt eine Tempelpriesterin und Prostituierte namens Schamchat. Ihre erotische Macht bezwingt Enkidu, macht ihn zu einem Menschen. Menschsein und Leben in der Stadt - das scheint in jenen Zeiten eins zu sein.

Moloch Großstadt

Seither haben sich Städte entwickelt. Eine heutige Metropole unterscheidet sich recht massiv von den ersten sumerischen Städten Ur und Uruk in Mesopotamien. Entfalteten sich diese noch auf eng umgrenzten Flächen, so sind heutige Großstädte zu wahren Molochen geworden, die sich immer weiter in ihr Umland fressen und es überwuchern. Und in gleicher Weise vereinnahmen und umklammern sie krakenartig ihre Bewohner, deformieren ihre Herzen und ihre Hirne.

Rom, Paris, London, Berlin, Moskau, Dublin, Wien, allen voran natürlich New York, aber auch Sao Paulo, Dehli, Havanna, Tokio und wie sie alle heißen - es gibt kaum eine größere Stadt ohne ihre spezifischen Stadtromane, in denen die Stadt allgemein wie auch die spezifischen Besonderheiten der jeweiligen Metropolen das Thema sind.

"Berlin, Alexanderplatz"

Der Hauptprotagonist in Alfred Döblins Roman "Berlin, Alexanderplatz" heißt Franz Biberkopf. Aber ist dieser ungelenke, ungeschlachte Franz Biberkopf, der zu Beginn des Romans aus dem Gefängnis entlassen wird, wirklich die Hauptfigur? Der Literaturprofessor Wendelin Schmidt-Dengler von der Universität Wien meint nein. Denn die Stadt selbst sei die eigentliche Hauptfigur in "Berlin, Alexanderplatz".

Darin besteht eine Neuerung im Verhältnis von Erzählung und Stadt, für die Alfred Döblin und zeitgleich der New Yorker Autor John Dos Passos mit seinem Roman "Manhattan Transfer" stehen.

"Manhattan Transfer"

"Manhattan Transfer" erschien 1925 und umfasst den Zeitraum von 1900 bis 1924. Der Titel nimmt Bezug auf einen Bahnhof zwischen Newark und Jersey City. Der Schriftsteller agiert in diesem Buch wie ein Collage-Künstler: In kurzen Portraits und Momentaufnahmen "schneidet" Dos Passos Menschen der Riesenstadt nebeneinander.

Lebenswege verzahnen sich, es ergeben sich flüchtige Bekanntschaften, doch letztlich ist Dos Passos großer moderner Stadtroman auch ein Buch der Entfremdung. Der Einzelne wird durch die nur am Gewinn orientierte Produktion von seiner Arbeit und von sich selbst entfremdet, hinzu kommt das städtische Phänomen des Alleinseins in der Masse.

Nach Erscheinen des Romans, 1925, rückte John Dos Passos mit einem Schlag in die Riege der wichtigsten Autoren des 20. Jahrhunderts. Das kontrastreiche Nebeneinander von Episoden und Brüchen überzeugte als schillerndes Porträt des urbanen Großstadtdschungels.

Mehr zum "Gilgamesch-Epos" in oe1.ORF.at

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