Hitler und Stalin im Vergleich

Die Diktatoren

Obwohl der Buchtitel auf eine biografische Gegenüberstellung der beiden Diktatoren schließen lässt, hat sich Richard Overy eine andere Aufgabe gesetzt: Ihm war es um die Frage der einzelnen Dimensionen der beiden Diktaturen zu tun.

Der Vergleich zwischen den beiden großen Diktaturen des 20. Jahrhunderts wurde seit den Anfängen totalitärer Bewegungen immer wieder diskutiert. Doch erst seit einigen Jahren, da beide Diktaturen der Geschichte angehören und auch der Zugang zu russischen Quellen möglich ist, lässt sich dieser Vergleich auf konkrete Strukturen und Funktionen ausdehnen.

Gegen die moralische Empörung

Hinter dem neuen Konzept des britischen Historikers Richard Overy verbirgt sich auch der Versuch, gegen einen als undifferenziert erlebten Totalitarismusvergleich anzuschreiben, der sich mehr auf moralische Empörung und ideologische Färbungen als auf empirische Untersuchungen stützte.

Die Aufgabe des Historikers besteht nicht darin zu beweisen, welche der beiden Männer der größere Schurke oder Psychopath war, sondern in dem Bemühen, die unterschiedlichen historischen Prozesse und Denkarten zu verstehen, die diese beiden Diktatoren dazu brachte, Morde in einem so ungeheuerlichen Ausmaß zu begehen. Dieses Buch soll zu einem solchen Verständnis beitragen.

Antikapitalistische Einstellung beider Diktatoren

Am Beispiel der Kommandowirtschaft zeigt Richard Overy, dass beide Diktatoren antikapitalistisch eingestellt waren und den Glauben an die zerstörerischen Kräfte des Kapitalismus teilten. Ebenso, wie die eigene Ideologie als neue Alternative zum politischen Liberalismus verstanden wurde, sollte auch eine neue Wirtschaftsordnung geschaffen werden.

So kann Richard Overy auch marxistisch gefärbte Interpretationen widerlegen, die etwa im deutschen Großkapital die leitende Kraft der NS-Politik sahen. Wenn es etwa in der Sowjetunion zu technischen Fehlern kam, galt dies als politisches Delikt, als Sabotage gegen das Regime, da alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens politisiert waren, jedoch niemals einer totalen Kontrolle unterstanden.

Das Bestreben der Deutschen, sich möglichst rasch von der Weltwirtschaftskrise zu erholen, und das Bestreben der Sowjets, das industrielle Wachstum möglichst zu beschleunigen, führte in beiden Ländern zu einer Mobilisierungswirtschaft, in der der Staat alle Hebel in Bewegung setzte, um exzeptionelle Wachstumsraten und eine wirtschaftliche Restrukturierung zu erzwingen, wie sie unter den Bedingungen einer marktwirtschaftlichen Ordnung niemals vorstellbar gewesen wären.

Direkter und indirekter Terror

Overy rückt auch eine andere Dimension der Kontrolle ins Blickfeld: den Terror. Er wurde auf unterschiedliche Arten ausgeübt: Der direkte Terror richtete sich gegen willkürlich ausgewählte Feinde, die Juden in Deutschland, die Bourgeoisie in Russland; der sanfte Terror richtete sich aber gegen die gesamte Bevölkerung.

Richard Overy sucht die Terrorherrschaften auch in seinen psychischen Dimensionen zu erklären. Die Aufforderung zu Denunziation, Bespitzelung und Verrat beruhte auf der permanenten Weckung, Stimulierung und Ausnutzung der niedrigsten menschlichen Instinkte wie Neid, Gier, Schadenfreude, Hass und Niedertracht.

Der komplexe Prozess der Selbstüberwachung trägt nicht nur zur Erklärung bei, wie es möglich war, dass der Unterdrückungsapparat mit so begrenzten Ressourcen seine Aufgaben erfüllen konnte, sondern lässt auch das Ausmaß erkennen, in dem beide Gesellschaften die Unterdrückung nicht als eine alles erstickende Decke des Terrors wahrgenommen haben, sondern als etwas, das für sich allein schon notwendig oder gar wünschenswert war.

Komplexe Detailstudien

Mit seinen äußerst komplexen Detailstudien zählt Richard Overy zu den Spitzenautoren in seinem Bereich. Was er an Informationen zusammengetragen und verarbeitet hat, findet wenig Konkurrenz. Dennoch bleibt er bei einem äußerlichen Vergleich der beiden Diktaturen stehen. Obwohl der Autor erkennt, dass sich diese beiden Regimes begegnet sind und das Verhältnis der Konkurrenz und Zusammenarbeit, in dem sie punktuell standen, weitere Entscheidungen bestimmte, bezieht er es nicht in seine Analyse ein. Dadurch gerät die tiefere Bedeutung der Totalitarismustheorie ins Abseits.

Overys Analysen bleiben in einer Parallelisierung der beiden totalitären Regimes stecken. Das wird ein Teil der Fachwelt bedauern, tut aber den sonstigen großen Leistungen des Buches keinen Abbruch.

Mehr um Themenschwerpunkt "Österreich 2005" in oe1.ORF.at

Buch-Tipp
Richard Overy, "Die Diktatoren - Hitlers Deutschland, Stalins Russland", aus dem Englischen übersetzt von Udo Rennert und Karl Heinz Siber, DVA, ISBN 3421054665