Grassierendes Staatsgründungsfieber

Das verflixte Jahr

Albaniens Staatsgründung stand unter keinem guten Stern, oder besser: Kometen. Hinter allen Vorgängen im Roman des albanischen Autors Ismail Kadare symbolisiert dieser die parteilose Gleichgültigkeit der Natur gegenüber den Menschen und der Geschichte.

Albaniens Staatsgründung stand unter keinem guten Stern. So viel ist schon auf den ersten Seiten des Romans von Ismail Kadare klar, wo der Komet "Delavan" als Symbol des Unheils erscheint. Und am Ende des Buches wird der leitmotivisch auftretende Komet immer bleicher, weil ihm nicht bekommen ist, was er auf der Erde zu sehen bekam. Das Auftreten des Kometen im Jahr 1914 ist historisch wie vieles andere, was Kadare auftischt und auf ein einziges Jahr zusammenzieht, "Das verflixte Jahr" eben.

Tollhaus Albanien

Gott, was für ein wüstes Durcheinander! Kaum aus der Taufe gehoben, war der albanische Staat schon ein einziges Tollhaus.

Dieses Tollhaus wird geografisch und politisch ausgeleuchtet, und Kadare bleibt dabei "näher an den gesicherten Tatsachen als in anderen Büchern", wie uns das Nachwort wissen lässt. Auf dieses und das zwölfseitige Glossar ist man denn auch dringend angewiesen, um den Roman lesen zu können beziehungsweise um wenigstens zu verstehen, dass man als normal gebildeter Mitteleuropäer nichts weiß von Albanien.

Keine Rücksicht auf ethnische Grenzen

Nach der Niederlage des Osmanischen Reiches im russisch-türkischen Krieg 1878 konnten so gut wie alle Balkanvölker ihren eigenen Staat gründen - nur die Albaner nicht, wegen der Gebietsansprüche der Nachbarvölker und fehlender Unterstützung der europäischen Großmächte. Erst 1913, nach den Balkankriegen, einigte man sich auf die Schaffung eines Erbfürstentums Albanien in den noch heute geltenden Grenzen.

Das sonst so hochgehaltene ethnische Prinzip wurde dabei ignoriert: Kosova, fast die Hälfte des von Albanern bewohnten Gebietes, wurde Serbien zugeschlagen. Hier liegen die Ursachen für die Kriege und Auseinandersetzungen bis heute. Wenn Ismail Kadare also jene Periode schildert, in der Deutschland halb Südosteuropa mit seinen überflüssigen Prinzen versorgte und in Albanien Prinz Wilhelm zu Wied inthronisiert wurde, dann erzählt er keine belanglose Geschichte. Sie beginnt, wie das 20. Jahrhundert in dieser Region geendet hat: mit den Ansprüchen auf ein Stück Land.

Irrungen und Wirrungen

"Diverse Armeen und Banden durchkreuzten das Land", österreichische, französische, italienische und montenegrinische Truppen, sowie "Esad Paschas muselmanische Banden", die die Wiedervereinigung mit der Türkei auf ihre Fahne geschrieben hatten, stoßen ständig auf einander; dass die Armee des gerade gegründeten albanischen Staates die schwächste von allen ist, versteht sich von selbst.

Die Ironie, mit der alles erzählt wird, darin bewährt sich der Autor Ismail Kadare. Diese Ironie nimmt nicht nur die tölpelhaften Krieger aufs Korn, die selbst Opfer der Geschichte sind, sondern auch die Großmächte; und vor allem Journalisten und spätere Forscher, die mehr Mythen produzieren als sie aufklären können.

Skurrile Epoche, ironisch erzählt

Es herrscht jedenfalls, wie der Roman beschreibt, "grassierendes Staatsgründungsfieber", denn Albanien ist ethnisch und religiös von faszinierender Buntheit, und natürlich will jede Gruppe ihren eigenen Staat gründen. Religiöse Rivalität mündet in einen perversen Wettkampf: Die Nonne Agnes will sich lebend ans Kreuz schlagen, der Derwisch Ahmet hingegen lebendig begraben lassen. So soll die Überlegenheit des jeweiligen Glaubens bewiesen werden. Das Leben wird zur Hölle, nur die Kurtisane Sara Stringa fühlt sich wohl und möchte nirgendwo anders leben - sie zählt ja auch alle Konsuln und Offiziere zu ihren Kunden.

Liest man Ismail Kadares absurdes Kaleidoskop mit seinen Perspektivewechseln, mischen sich Vergnügen und Erkenntnis. Unbekannte Archaik und die wohl vertraute Mischung aus Zynismus und Ahnungslosigkeit in der Politik der Großmächte treten krass hervor, und so ist der Roman nicht nur ein künstlerisches Bild einer skurrilen Epoche des Übergangs in einem kleinen Land in europäischer Randlage, sondern hat eine Deutekraft für das Europa des 20. Jahrhunderts und seine Inkompetenz am Balkan. Noch mehr als der albanische Nationalismus wird die Fremdwahrnehmung der ganzen Region parodiert. So ist der Roman "Das verflixte Jahr" ein faszinierendes Erzähl-Gewebe auf engem Raum, das durch seinen Stoff, vor allem aber durch konsequente Reduktion wie durch das genüsslich-ironische Ausmalen von Details besticht.

Buch-Tipp
Ismail Kadare, "Das verflixte Jahr", übersetzt von Joachim Röhm, Ammann Verlag, ISBN 325060044