Das "Gilgamesch-Epos" ist ein Leseabenteuer wert

Junge Wilde und weise Alte

Es ist reizvoll, hin und wieder der Hektik des Literaturalltags zu entfliehen, die laufende und überlaufende Text- und Buchproduktion hinter sich zu lassen, und sich mit etwas Altem zu beschäftigen. Zum Beispiel dem "Gilgamesch-Epos".

Schon der alte Goethe sagte:

Wer nicht von dreitausend Jahren
sich weiß, Rechenschaft zu geben,
bleibt im Dunkeln, unerfahren,
mag von Tag zu Tage leben.


Jedenfalls lädt es gleichsam die "intellektuellen Batterien" wieder auf, die sich im täglichen Getriebe zwangsläufig leeren. Es schafft Überblick und ermöglicht Vergleiche. Anders als in Wissenschaft und Technik ist in der Kunst das Neue ja nicht zwangsläufig das Bessere und das Alte nicht per se veraltet. Und Spaß macht es außerdem.

Die Versdichtung um den König Gilgamesch aus Uruk ist ja das erste literarische Werk der Menschheit überhaupt, soweit bekannt. Dass wir von der Versdichtung aus der fernen Zeit der Sumerer und alten Babylonier überhaupt Kenntnis haben, ist im Zeitalter der digitalen Datenspeicherung natürlich bemerkenswert: Der NASA etwa sind heute bereits die Daten der Mondlandungen aus den 1960er Jahren verloren gegangen. Die fortdauernde Einwirkung des Erdmagnetfeldes hat die magnetisch gespeicherten Informationen großteils gelöscht, wird vermutet. Genaueres weiß man gar nicht, denn darüber hinaus existieren die Geräte nicht mehr, mit denen jene Bänder abgespielt werden könnten. Sie neu zu bauen, ist nur unter immensen Kosten möglich, die die US-Regierung nicht aufbringen kann.

Anders bei Gilgamesch, der nach aktuellem Stand übrigens mit langem, betontem "a" auszusprechen ist, nicht mit Betonung auf dem "i". Also GilgAmesch. Seine Expeditionen, wenngleich nicht bis zum Mond, so doch bis ans Ende der Welt, können wir auch über 3.000 Jahre später noch nachlesen. Das verdanken wir einem schier unverwüstlichen Speichermedium, der keil-beschrifteten Tontafel.

Der Google-Idee, die literarischen Bestände der Menschheit zu digitalisieren und auf Festplatten zu speichern, stehe ich daher skeptisch gegenüber: Alles wirklich Wichtige sollte man in Tontafeln ritzen. Aber dies nur nebenher.

Abgesehen von derlei Altertümlichkeiten mutet das Epos geradezu unglaublich modern an. Schon in seiner Vorrede behauptet Autor Sin Leque Unnini, der um etwa 1500 v. Chr. lebte (wie aus sprachlichen Details zu schließen ist), nicht er habe das Werk geschrieben, vielmehr habe er es auf alten, vergrabenen Steintafeln gefunden, die Gilgamesch selbst Tausende Jahre zuvor in die Stadtmauern Uruks einfügen hatte lassen. - Ein literarischer Trick, der ja auch bei heutigen Autoren in dieser oder jener Form beliebt ist.

Unnini erzählt dann den Lebensweg Gilgameschs, vor allem seine mentale Entwicklung vom vergnügungssüchtigen Jüngling zum alten, weisen und guten König in vier Phasen. Es beginnt mit dem jungen, gerade postpubertären Mann, der bloß Mädchen und Spiel im Sinn hat. Eine offenbar zeitlose Erscheinung: Uns fällt "Sex & Drugs & Rock 'n 'Roll" ein. Oder: "Fight for your right to party"... Nichts Neues unter der Sonne, schon in der Ära Gilgamesch waren die jungen Leute so.

Darauf folgt ein Lebensabschnitt, in dem der Erwerb von Ruhm und Ehre dominiert. Gilgamesch will bekannt und berühmt werden. Gemeinsam mit seinem Gefährten Enkidu vollbringt er zahlreiche Heldentaten, was im alten Mesopotamien hieß, Kämpfe zu bestehen und gefährliche Monster zu töten.

Ungeheuer und Monster sind heute ja ausgestorben, indes ist das Ganze vom modernen Leben so weit entfernt nicht: Die Heldentaten der Neuzeit bestehen im beruflichen Aufstieg in der Firma, im Erwerb einer Visitenkarte mit beeindruckendem Titel, sowie dem einer deutschen Limousine und in der Bestückung eines wohl gefüllten Aktiendepots.

Und wie auch heutige Karrieremenschen entdeckt Gilgamesch mit dem Fortschreiten der Zeit und des unvermeidlichen biologischen Alterungsprozesses, dass er sterblich ist. Dass ihm aller Ruhm und alle Ehre der Welt das finale Sterben nicht ersparen können. Das Leben ist begrenzt und verrinnt unaufhaltsam. Eine höchst schmerzliche Tatsache.

Rainer Maria Rilke veranlasste das, den "Gilgamesch" das "Epos der Todesfurcht" zu nennen, was dem Werk nur teilweise gerecht wird. Die folgende Suche nach dem ewigen Leben bildet bloß einen der vier Abschnitte im Leben Gilgameschs. Er ist von langen, einsamen Wanderungen, unter anderem bis ans Ende der Welt, geprägt, sowie von langen, verzweifelten Debatten. All das nützt natürlich nichts, auch ihm, dem König der Könige, bleibt das Tor zur ewigen Jugend versperrt.

Was Rilke indes zur Überbewertung dieses Abschnitts der Todesfurcht veranlasste, ist leicht zu erraten: Er befand sich wohl selbst gerade in jener Phase, die heutige Psychologen und Seelenforscher umgehend als "Midlife Crisis" diagnostizieren.

Diese Beispiele ließen sich fortsetzen. Beeindruckend am "Gilgamesch" ist jedenfalls, dass Autor Sin Leque Unnini, von dem wir nicht mehr als den Namen wissen, sich bereits in jenen fernen Vorzeiten mit exakt jenen Umständen des Lebens beschäftigte, mit denen wir uns immer noch herumschlagen; dass in einer Zeit, in der das Rad eine Bahn brechende Innovation darstellte, die wahren Probleme der Menschen keine anderen waren als heute, da wir im Jumbo-Jet von Kontinent zu Kontinent fliegen. Das ist wirklich frappierend.

Nachsatz: Als vierte und letzte Phase schließt sich im Leben Gilgameschs noch die der klugen, versöhnlichen und bescheidenen Altersweisheit an. Darüber kann und will ich aber jetzt nichts sagen. Fragen Sie mich in ein paar Jahrzehnten.

Buch-Tipp
"Das Gilgamesch Epos", neu übersetzt und kommentiert von Stefan M. Maul, Verlag C. H. Beck, ISBN 3406528708

Hör-Tipp
Radiokolleg, Montag, 5. Dezember 2005, 9:05 Uhr: "Der Moloch. Die Weltstadt als Herausforderung des Romans"

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