Bibliotheken als Kulturzentren
Finnen vor!
Laut PISA-Studie sind die Finnen die Weltmeister in punkto Lesen. Scheint, als müsste man sie demnächst auch zu Weltmeistern des skurrilen Humors ernennen. Zumindest, wenn man diese verrückte Venedig-Geschichte von Hannu Raittila gelesen hat.
8. April 2017, 21:58
Die finnischen Schüler sind die besten Leser. Nur sieben Prozent schwache und ca. 50 Prozent ausgezeichnete Leser. Dieses Ergebnis der Pisa-Studie lässt mich (Verzeihung!) unsere hoffnungsvollen Schulbankdrücker nachdenklich betrachten, und hat in Finnland und anderswo, vor allem bei unseren bundesdeutschen Nachbarn, eine lebhafte Diskussion hervorgerufen, was denn wohl zu diesem außergewöhnlichen Ergebnis geführt haben könnte.
Die Argumente sind höchst unterschiedlich. Das renommierte Deutsche Institut für Internationale Pädagogische Forschung konstatiert beinahe ungläubig, dass die kleinen Finnen erst mit sieben Jahren in die Schule müssen, und dass die Kinder in den diversen vorschulischen Einrichtungen nicht primär auf die Grundlagen lernorientierter Einstellungen hin gedrillt werden.
In Finnland zählen ganz andere Werte, die man den Kleinen vor der Schule beibringt: soziale Kompetenz, Kooperation, Achtung der anderen (Respekt, Respekt!).
Unterschiedliche Argumente
Die Finnen selbst meinen, dass sie so gut lesen können, dürfte zum großen Teil daran liegen, dass ausländische Fernsehprogramme nicht synchronisiert, sondern mit Untertitel versehen gesendet würden. Und dass sich im Finnischen das Gesprochene und das Geschriebene kaum unterschieden.
Das offizielle Finnland hat natürlich andere Argumente: "Die Gesamtschule ist zur Bildung der Nation das beste System", sagt Ausbildungsrätin Pirjo Sinko. Und sie fügt hinzu, dass die finnischen Lehrer hervorragend ausgebildet seien. Wobei sie allerdings ein Ergebnis der PISA-Studie eher beunruhigt: die Zahl der Spitzenkönner ist relativ klein, das heißt, dass die besonders Begabten offensichtlich nicht so gefördert werden wie ihnen gut täte.
Hoher Stellenwert des Lesens
Lesen hat in Finnland einen hohen Stellenwert. Der typische finnische Morgen beginnt mit der Morgenzeitung und einem Kaffee. Standardausrüstung finnischer Wohnungen ist das Bücherregal, nach dessen Standort alle anderen Möbel (und auch der Fernseher!) platziert werden. Bibliotheken gelten als Kulturzentren. Und angeblich gibt es die Eheerlaubnis nur für Lesekundige.
Wenn das so ist, weshalb aber hielt man es vor ein paar Jahren für nötig, eine Kampagne "Lesender Mann" zu starten? Gemeinsam mit dem Finnischen Ballsportverband forderte das Zentralamt für Unterrichtswesen die sportbegeisterten finnischen Männer auf, in ihrer Freizeit auch mal ein Buch zur Hand zu nehmen. und damit die mit nichts als Fußball im Kopf auch keine Ausrede hätten, wurden am Rand der Sportplätze eigene Feldbibliotheken zum Relaxen aufgestellt. Denn: die finnischen Männer halten Bücher für eine rein weibliche Angelegenheit!
Doch nicht ganz problemfrei
Auch das wird diskutiert. Väinu Kuukka, Studienrat für Finnisch und Literatur an der Suomalainen Yhteiskoulu, der Finnischen Gemeinschaftsschule, in Helsinki meint, man müsst sehr genau darauf achten, welche Bücher in den Kanon für Schüler aufgenommen würden, denn "die Schule kann die Lust zum Lesen entweder entfachen oder völlig auslöschen."
Wenn sich Erich Maria Remarques "Im Westen nichts Neues" als zu schwierig erweist, sollte man doch Harry Potter lesen lassen!
Lesen und analysieren
Aber es gibt noch ein Problem: Die Finnen lernen nicht zu argumentieren und zu hinterfragen. "Um sich eine eigene Meinung bilden und kritisch lesen zu können, muss man die Kunst der Argumentation entwickeln. Das größte Defizit besteht darin, dass die Schüler Begründungen nicht mehr von Erklärungen unterscheiden können", sagt Väinö Kuukka. Und: "in Finnland kommen leicht allerlei Mythen auf, an die man einfach glaubt, weil es einem so vorkommt. Vielleicht fehlt uns eine philosophische Tradition, in der Dinge offen hinterfragt werden und man prüft, ob es wirklich so ist. In Finnland gibt es immer jemanden, der es besser weiß: der Vater, der Boss, die Politiker..."
In dieselbe Kerbe schlägt die aus Dänemark stammende Universitätslehrerin Karin Guldback-Ahvo: "Die Finnen denken hierarchisch und sind autoritätsgläubig. In Dänemark ist das ganz anders. In Dänemark muss man immer kritisch sein. Man muss dauernd Fragen stellen. Von klein auf liest man Bücher und analysiert sie zugleich, stellt das Gelesene in Frage. Die Finnen lesen da anders. Ihnen geht es darum, Wissen zu erwerben. Wenn man finnische Schüler fragt, 'Was meinst du denn dazu?', bekommt man zur Antwort, 'Weiß nicht'".
Das zeigt uns wiederum zweierlei: Es ist nicht alles Gold, was glänzt. Und: Ein gerüttelt Maß an Kritik, soll heißen "respektlose Herumfragerei", ist gar nicht so schlecht, liebe Lehrer. Und eine gewisse Höflichkeit, liebe Schüler, könnte durchaus zu noch zufriedenstellenderen Ergebnissen führen.
service
Hannu Raittila, "Canal Grande", aus dem Finnischen von Stefan Moster, Knaus Verlag
helsinki.fi - Finnen Weltmeister im Lesen