Lachenmann bei Wien Modern, Konzerte in Ö1

Nachgedachte Musik

Lange galt Helmut Lachenmann als das, was man im Jazz einen "Musician’s Musician" nennt: Ein Komponist, der zwar geachtet ist, dessen Musik aber vorwiegend von Fachkollegen verstanden und geliebt wird. Dieses Bild hat sich inzwischen grundlegend geändert.

Vor einigen Jahren in Graz, das Eröffnungskonzert des "musikprotokoll im steirischen herbst": Der Dirigent Sylvain Cambreling dirigiert ein Konzert voller herausfordernder Uraufführungen und hatte sich während der Planungsphase ein Stück ins Programm erbeten, das einen historischen Bezugspunkt herstellen sollte - das schon legendäre Ensemblewerk "Mouvement (- vor der Erstarrung)" von Helmut Lachenmann.

Das schien wunderbar sinnfällig zu sein, und so wurde dieses Konzert auch tatsächlich mit diesem Werk beschlossen. Und es entpuppte sich als die Überraschung des Konzertabends. Helmut Lachenmanns Musik erscheint ja manchmal selbst den mit dieser Musik Vertrauten als ein sperriges Kunstgut, als eines, das fühlbar macht, dass das direkte Hörerlebnis zwingend auch etwas Indirektes benötigt, ein Vorwissen um Geschichte und Philosophie in und über die jüngeren Entwicklungen der europäischen Kunstmusik.

Eine Metamorphose

So viele ungewöhnliche Instrumentaltöne und geräuschhafte Augenblicke entwickeln sich hier zu Musik, dass manchem Hörer das Nachvollziehen dieses Schrittes von Ersterem zu Zweiterem schwer fällt. An diesem Abend aber begann das Klangforum Wien unter Sylvain Cambreling all diese Klangmaterialien mit einer Intensität auszubreiten und weiterzuentwickeln, dass aus der als spröde verschrieenen Musik Helmut Lachenmanns ein furioses Konzertfinale wurde. Die vermeintlichen Gegensätze waren wie weggeblasen: Das spröde Ausgangsmaterial und die soghafte Wirkung eines sich beschleunigenden Finales bedingten einander ganz unmittelbar, der Jubel des Publikums war beträchtlich.

Nun ist diese kleine Geschichte einer persönlichen Erfahrung aber mehr als das, sie beschreibt zugleich die Rezeptionsgeschichte dieses Komponisten im Miniaturformat. Jahre-, wenn nicht jahrzehntelang galt Helmut Lachenmann als das, was man im Jazz einen "Musician’s Musician" nennt, einen jener Komponisten, der geachtet ist, aber dessen Musik auf Grund ihrer Radikalität hauptsächlich von Fachkollegen wirklich verstanden und geliebt wird.

Warteschlangen für Lachenmann-Oper

Langsam veränderte sich dieses Bild und zu vermuten ist, dass daran mehreres gleichzeitig teilhatte: die besser und besser werdenden Interpretationen seiner anfänglich so schwer zu spielenden Musik, das Kennen- und Verstehenlernen seiner Musiksprache seitens der Hörer über die Jahrzehnte und nicht zuletzt auch die Veränderung seiner Musik selbst.

Als seine Oper "Das Mädchen mit den Schwefelhölzern" an der Hamburger Oper uraufgeführt wurde, war dies endgültig auch augenscheinlich: Statt leerer Sitzreihen im Opernhaus gab es Warteschlangen um Restkarten.

Sprödes wird zum Showstopper

Um nicht nur rezeptiongeschichtlich zu argumentieren: Man kann im Innersten von Helmut Lachenmanns Kompositionskunst eine Synthese beobachten, zumindest kann man das als Theorie aufstellen, die so eine Entwicklung auch zum Teil verständlich macht, kurz gesagt eine ganz eigene und (zumindest zu Beginn seines Komponierens) von sonst niemandem vorgenommene Verknüpfung einerseits des strengen, materialgebundenen, struktur- immanenten seriellen Denkens und andererseits eines Musikempfindens, das sehr wohl auf die unmittelbare Wirkung des vom Komponisten innerlich gehörten Klangs setzt.

Helmut Lachenmann verwendete dazu in seinen eigenen Texten häufig den Begriff "Strukturklang": Es ist die ausgeprägte Genauigkeit im Analysieren von und im Umgang mit winzigen Geräuschen und Klängen, von der Lachenmann ausgeht, aber - um das nun sehr simplifiziert zu sagen - er denkt sie immer als Prozess, nie als fixe Größe. Und genau daraus gewinnt er dann seine Musik: Er forscht diesen Klangprozessen nach, arbeitet sie durch - vielleicht wirklich im Sinne der klassischen "Durchführung" einer Sonatenhauptsatzform zu Beethovens Zeiten - und gewinnt aus diesen Klangprozessen jene manchmal hoch dramatischen Musikpassagen, die - wie erwähnt - auch ein vermeintlich sprödes Stück zu einem wahren Showstopper werden lassen.

"Was wirklich tief geht, muss 'glücken'"

Die Suche nach etwas Tiefgehendem, die Lust am Formulieren und das Credo, dass nur ständiges Suchen und höchstes Risiko Nennenswertes zu erzeugen in der Lage sind, das ist charakteristisch für Helmut Lachenmann:

"Es ist alles Glück - ich merke es immer deutlicher: Alles, was wirklich tief geht, muss 'glücken' - das heißt: auf der dem Bewusstsein abgewandten Seite des eigenen Suchens und Spekulierens einem entgegen wachsen. Wehe wenn ein Komponist erreicht, was er 'will' - dann ist er verloren; er muss von der Eigendynamik dessen, was er in den Griff zu nehmen sucht, irritiert, gestört, überholt, vielleicht sogar erschreckt werden."

Buch-Tipps
J. Häusler (Hrg.), "Helmut Lachenmann, Musik als existenzielle Erfahrung", 2004, Breitkopf & Härtel, 2004, ISBN 3-7651-0247-4

J. P. Hiekel und S. Mauser (Hrg.), "Nachgedachte Musik - Studien zum Werk von Helmut Lachenmann", Pfau Verlag, 2005, ISBN 3-89727-298-92005

Links
Breitkopf & Härtel
Pfau Verlag
Wikipedia - Helmut Lachenmann
RSO Wien
Wien Modern