No future für Immigrantenkinder

Explosion der Gewalt

Bereits 1992 hat sich Feature-Autor Mahmoud Lamine mit den Banlieues von Paris beschäftigt. Heute ist seine Dokumentation nach wie vor brandaktuell. Die Probleme sind exakt dieselben: trostlose Vorstädte, keine Arbeit, keine Hoffnung, keine Perspektive.

Der junge Kader erzählt Mahmoud Lamine über sein Leben

Frankreich 1905: Man zählt 2.000 nordafrikanische Einwanderer. 1914, vor Kriegsbeginn: 30.000. Die Industrie hat Arbeitskräfte gebraucht. 1916: Das Kriegsministerium in Paris gründet die Abteilung "Koloniale Hilfssoldaten" und holt im Laufe der folgenden zwei Jahre 150.000 Algerier, Marokkaner und Tunesier ins Land, teils für die Armee, teils für die Waffenindustrie.

Zwischen 1946 und 1949 verlassen 200.000 junge Nordafrikaner ihr Land. Die Kolonialmacht Frankreich benötigt sie für den Wiederaufbau nach dem Krieg. 1956 bis 1972: Die willige und billige Arbeitskraft der Immigranten wird für die expandierende Industrie unentbehrlich. Die Zahl der importierten Nordafrikaner steigt von Jahr zu Jahr. Diese verrichten immer mehr die so genannten minderwertigen Arbeiten. 1973: Wirtschaftskrise wegen Erdölembargo. Ab 1974 wird die Immigration gestoppt und arbeitslose Einwanderer werden in ihre Heimat zurückgedrängt.

Die Mehrheit der nordafrikanischen Einwanderer, die weiterhin in Frankreich lebt, wohnt am Rande der Großstädte in den Bedonvilles. Bedonvilles heißen die selbstgezimmerten Siedlungen aus Konservenblech und Kistenbrettern, die am Ende der 70er Jahre größtenteils durch Betonkästen ersetzt werden.

Trostlose Umgebung, trostloses Leben

Le Moulin Neuf ist einer dieser Vororte. Eine trostlose Gegend. In der unmittelbaren Nachbarschaft breitet sich eine riesige Industriezone aus. Wie zum Hohn trägt sie den Namen La Cerisaie, die Kirschplantage. Egal, wo man in diesem Dschungel hinschaut, überall präsentiert sich das gleiche Bild: kaputte Türen, kaputte Fenster, kaputte Briefkästen, kaputte Treppen. Nicht einmal ein Cafe lockert die Tristesse dieses Ortes auf.

Baha Tounsi ist 28 und in Moulin Neuf geboren. Er ist Franzose, seine Eltern sind algerischer Abstammung. Er ist Rechtsanwalt und hat in Moulin Neuf eine Betreuungsstelle für kriminell gefährdete Jugendliche gegründet.

"In der Tat haben wir hier alle Voraussetzungen, die zur Explosion der Gewalt führt", erzählt er. 30 Prozent der Bewohner dieser Siedlung sind arbeitslos. Hinzu kommt noch, was die Jugend hier 'galere' nennt, die Langweile, die große Leere, die entsteht, weil es hier nichts gibt, weder Kino noch Schwimmbad, alles ist sehr weit weg. Es ist schon eine Strapaze, wenn man um sich zu amüsieren nach Paris fahren muss. Ab 11 Uhr abends gibt es keine Verkehrsverbindungen mehr. Deshalb bilden sich Banden, die vor allem im Winter auf den Treppen und Gängen herumstehen. Deshalb entstehen Gewaltexplosionen."

Vorurteile und Diskriminierung

Der junge Kader taucht oft in Tounsis Betreuungszentrum auf. Kader bewundert und achtet seine Eltern. Er weiß, wie viel Leid seine schweigsame Mutter und sein demütiger und frommer Vater verbergen. Sie, die ihr Dorf in Nordalgerien vor 34 Jahren verlassen haben. Er schämt sich allerdings ihrer, weil sie sich in seinen Augen von den Franzosen ausbeuten ließen, weil sie ihm nicht einmal in der Schule, zu der er irgendwann nicht mehr ging, helfen konnten. Heute noch, wo er arbeitslos ist, weiß er, dass ihm keiner goldene Brücken bauen wird. Bestimmt nicht seine Eltern, und am wenigsten das Arbeitsamt.

"Eines der ersten Probleme der Vorstädte ist das Beschäftigungsproblem der Jugendlichen", weiß Tounsi. "Hier sind wir sofort mit der Diskriminierung konfrontiert. Wir wissen heute, dass die Kinder der Einwanderer enorme Schwierigkeiten bei der Anstellung haben. Einmal, weil sie natürlich nicht die notwendige Qualifikation haben - sie haben ja nicht die Chance gehabt zu studieren -, zum anderen stellt man diese jungen Leute kaum ein, weil sie den Ruf haben, kriminell, unanständig und faul zu sein. Diese Diskriminierung führt dann tatsächlich zur Kriminalität, diese wiederum trägt zur Explosion der Gewalt in den Vorstädten bei."

Tounsi weiß, wovon er spricht. "Die Menschen hier haben ihre Würde verloren", setzt er fort. "Und dann sagen sie sich, wir haben eigentlich nichts mehr zu verlieren. Wir sind für alles bereit. Und so geraten die Jugendlichen der Vorstädte in den Teufelskreis der Gewalt. Da auch die Schule ihre Rolle weitgehend verloren hat, sind die Kinder auf sich allein gestellt. Die Jugendlichen haben heute wirklich nichts. Deshalb sind sie imstande, Brände zu legen und Gegenstände zu zerstören."

Revolte als Ziel

Frankreich 2005: Die Fernsehbilder zeigen Szenen wie aus einem Bürgerkrieg: Vermummte und Molotow-Cocktails werfende Jugendliche, ausgebrannte Autos, vernichtete Straßenzüge, empörte Bürger und um Fassung ringende Politiker. "Unser Ziel", sagte ein Jugendlicher schon 1992, "kann nur die Revolte sein. Unser Traum ist es, eines Tages Paris zu plündern und anschließend eine Fete zu machen." 13 Jahre später scheinen sich viele Jugendliche diesen "Traum" zu erfüllen.

Download-Tipp
Ö1 Club-Mitglieder können die Sendung nach Ende der Live-Ausstrahlung im Download-Bereich runterladen.