Ein Protokoll

Onkel Slavko

Auf dem Bücherregal der Großmutter stand das unscharfe Foto eines sommersprossigen Kindes. Slavko Arnautovic, 1941 Student in Moskau, galt als vermisst. Jahrzehnte später hat seine Nichte Verhörprotokolle aus dem russischen Staatsarchiv gehoben.

Moskau, Kinderheim No. 6
2. Jänner 1936
Liebe Eltern!
Haben Euren Brief heute erhalten. Heute schicken wir euch ein Foto von einem Museum am Roten Platz, das war früher eine Kirche vom Iwan dem Schrecklichen. Gestern war bei uns ein großes Fest. Wir sahen eine Künstlerin, die mit einer Hand 15 Glocken spielte, sie spielte das Rotarmistenlied. Wir sahen auch Hunde, die nicht mit Prügel dressiert werden, sondern im Guten. Sie liefen auf zwei Füßen. Und zwei Hunde wurden als Tänzer angezogen und tanzten. Wir bekamen auch Essen, das wir in Österreich nie gegessen haben. Die Kleinkinder bekamen schönes Spielzeug und wir Briefpapier. Wir hatten es sehr gut. Wir haben jetzt zehn Tage frei zum Ausrasten.
Viele Grüße von Euren Söhnen Slavko und Karli

"Euer Onkel Slavko ist vermisst." Dieser Satz begleitete mich durch die Kindheit. Auf dem Bücherregal meiner Großmutter stand diese unscharfe Schwarzweißfotografie eines sommersprossigen Kindes. Beide Söhne hat sie als Kinder verloren. Den einen, meinen Vater Karl hat sie als Dreißigjährigen zurückbekommen. Den anderen, Slavko, hat sie bis zu ihrem Tod schmerzlich vermisst, ohne je die Hoffnung aufzugeben, er möge irgendwo, vielleicht in Sibirien leben und irgendwann nach Österreich heimkehren.

Bis zum Bürgerkriegsfebruar 1934 lebt die Familie in einem Wiener Arbeiterbezirk. Die Buben besuchen den Montessori-Kindergarten und danach die Tschechische Schule. Im Roten Wien herrscht Aufbruchstimmung. Selbstbewusstsein und Klassenbewusstsein - diese Werte sollen die Kinder mitnehmen ins Leben.

In jenem Februar sind sie dreizehn und neun Jahre alt. Nach dem gescheiterten, manche sagen verratenen Aufstand, muss der Vater, ein Schutzbundaktivist, aus Österreich flüchten. Die Mutter wird verhaftet, verhört, verfolgt. Was soll nur mit den Kindern geschehen? Die Rote Hilfe Wien organisiert Pflegeeltern in der Tschechoslowakei. Als sich abzeichnet, dass die Kinder nicht im Herbst wieder in ihre Familien und Schulen zurück können, werden sie mit einem geschmückten Sonderzug nach Moskau gebracht.

Wien, 15. November 1934
Mein liebstes kleines Blondköpferl! Du hast das große Glück, dass Du in einer freien sozialistischen Gemeinschaft leben darfst! Beweise Deinen kleinen und großen Genossen, dass Du ein wahrer, aufrechter Sozialist bist, beweise es durch intensive Arbeit und fleißiges Lernen, dass Du ein Klassenkämpfer werden willst, so wie Dein Vater und Deine Mutter. Vergiss nie, mein liebes Kind, dass mit Ausnahme Deiner neuen Heimat überall noch der Kapitalismus herrscht, dass er roh und brutal die Arbeitsmenschen, die Proletarier der ganzen Welt ausbeutet und unterdrückt! Vergiss nicht, dass Du und Deine Brüder und Schwestern berufen seid, eine neue, schönere, sozialistische Welt zu erkämpfen für alle Menschen!

Denke auch daran, dass wir in Österreich unter großen Gefahren für Freiheit und Leben für den Kommunismus arbeiten. Dass wir oft bei fremden Menschen schlafen müssen, um der Verhaftung zu entgehen.

Aber denke nicht, dass wir Alten die ganze Welt ändern können! Das ist Deine, Eure Aufgabe! Ihr Kinder von heute werdet die Fahnenträger des Sozialismus, die Eroberer der Welt von morgen sein!

Viele Genossen lassen Euch herzlichst grüßen. Schreibt bald und viel! Ich denke oft an Euch und freue mich, dass es Euch in jeder Weise gut geht. Mit vielen innigen Küssen und einem herzlichen Rot Front, bin ich Deine Mutti

Sieben Jahre später, am 1. September 1941 beginnt der 20-jährige Slavko in Moskau ein Medizinstudium. Am 9. September wird sein Zimmer durchsucht. Sachen werden beschlagnahmt. Der junge Mann wird verhaftet. Der Ausgang steht zu diesem Zeitpunkt schon fest. Jetzt muss nur alles in eine bürokratisch korrekte Form gebracht werden. Es beginnen zermürbende Verhöre.

Heute wundere ich mich, dass ein mehrere Stunden dauerndes Verhör auf einer halben Protokollseite Platz findet. Ein Historiker klärt mich auf: Bis zu tausend Mal wird eine Frage gestellt. Wenn die Antwort schließlich passt, wird protokolliert und gestempelt und unterschrieben. Die Akten haben sich bis heute in den Archiven erhalten.

Seinen 21. Geburtstag erlebt Slavko im Gefängnis. Nach drei weiteren Monaten ist er tot.

Tschistopol, 27. Mai 1942
Aktennotiz über den Tod des Strafgefangenen
Wir, die ärztliche Leiterin der Sanitätsabteilung des Gefängnisses Nr. 4 Mjatshina, die diensthabenden Arzthelfer Buljaewa und Djatshin haben die Leiche des Strafgefangenen Arnautovic Slavoljub besichtigt. Geboren 1921 in Wien (Österreich), wohnhaft in Moskau, beschuldigt gemäß Artikel 58/10/II, Zuständigkeit Gebietsabteilung des NKWD, überstellt in das Gefängnis Nr. 4 aus der Stadt Kasan, ist am heutigen Tag um 12 Uhr in der Einzelhaftzelle Nr. 8 verstorben. Die Leiche ist mittleren Wuchses, der Zustand ist schlecht und blass, zeigt Leichenflecken.
Todesursache: Kolitis avitaminosen Ursprungs
Unterschrift Leiterin der Sanitätsabteilung des Gefängnisses Nr. 4, Mjatshina
Unterschrift Dienst habende Arzthelferin Buljajewa
Unterschrift Leiter des Gefängnisses Nr. 4, Sergeant der Staatssicherheit Muchitdinow


Ich habe eine Medizinerin gefragt, was das ist, eine "Kolitis avitaminosen Ursprungs"? Ihre Antwort: Verhungern.

Hör-Tipp
Hörbilder, Samstag, 3. Juni 2006, 9:05 Uhr

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