Kollektives Gedächtnis laufend neu erarbeitet

Das Gedächtnis der Staaten

Im historischen Rückblick haben Staaten immer wieder ein Gedächtnis ausgebildet. Wobei der Begriff des Gedächtnisses für einen Staat problematisch ist. Das kollektive Gedächtnis kann nur als eine Metapher verstanden werden.

Kollektive haben einen Symbolhaushalt und Erinnerungsorte, auf die sie sich beziehen, mit denen sie ihre Identität stabilisieren, um die auch nur konstruierte Einheit eines Staates zusammenzuhalten, sagt Dirk Rupnow vom Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien und Leipzig.

Dreht sich die Erinnerung im Kreis?

Das kollektive Gedächtnis muss immer neu erarbeitet werden. "Wenn wir die Erinnerungen an den Holocaust nach 1945 beobachten, dann sehen wir, dass sich das jede Generation neu mit ihren Mitteln noch einmal aneignen muss. Darum entsteht der Eindruck, dass sich unsere Erinnerungskultur manchmal im Kreise dreht“, so Rupnow auf dem vom Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften in Kooperation mit der Sigmund-Freud-Privatstiftung veranstalteten Kongress.

Gedächtnisse verändern sich

Die Frage ist nicht nur, ob Staaten ein Gedächtnis brauchen, sondern wie sich das Gedächtnis über die Jahre verändert. Dan Bar-On, Professor für Psychologie an der Ben-Gurion Universität, hat zahlreiche Studien über Erinnerungsprozesse gemacht.

"Nach dem Zweiten Weltkrieg hatten alle Holocaust-Überlebenden - zumindest diejenigen, die ich von meinen Studien her kenne - ein riesiges Bedürfnis, alles zu verdrängen, was ihnen zugestoßen ist", sagt Bar-On. "Es zu vergessen, war sehr funktionell: sie konnten ein neues Leben beginnen, heiraten, eine neue Sprache lernen, emigrieren, sich in einer neuen Kultur zurechtfinden- die Verdrängung ist sehr hilfreich."

Das "Doppelte Wand-Phänomen"

In seinen Büchern beschreibt er diesen Prozess als das "Doppelte Wand"-Phänomen. "Die Eltern bauen eine Wand um ihre Erfahrung während des Holocaust und ihrem jetzigen Leben auf und die Kinder wachsen auf, spüren diese Wand, und bilden ihre eigene Wand entlang der Wand ihrer Eltern auf. Sogar ohne genau zu wissen, warum sie das tun - das ist keine bewusste Handlung. Und dann später- wenn eine Seite ein Fenster aufmacht, um etwas zu erzählen, oder die andere Seite möchte ein Fenster aufmachen und etwas fragen, dann begegnen sie normalerweise der Wand auf der anderen Seite. Und wir wissen von sehr wenigen Beispielen, wo sich spontan ein Fenster in beide Richtungen geöffnet hat - zur selben Zeit, am selben Ort."

Enkel als Motor des Gedächtnisses

"Erzähl Dein Leben", oder "Die Last des Schweigens" heißen die Bücher von Bar-On, in denen er die Dialogarbeit beschreibt - auch mit Kindern von Nazi-Tätern. Der Psychologe hält seit 1985 in Israel eine Vorlesung mit dem Titel "die Nachwirkungen des Holocaust".

Die Studenten sollen dafür mit ihren Großeltern ein Interview machen. Für viele Kinder von Überlebenden erschließt sich erst jetzt durch Gespräche mit den Enkeln die Geschichte ihrer eigenen Eltern - Dinge, die sie nie von ihren Eltern gehört haben erfahren sie jetzt über die Enkel.

Ideologie statt Gedächtnis?

Die Politiker manipulierten den Holocaust für ihre eigenen Zwecke. Staaten haben kein Gedächtnis, sondern Ideologien - ist Moshe Zuckermann überzeugt. Der Zionismus ging mit dem Holocaust mit zweckhafter Absicht um, sagt Zuckermann, Autor des Buches "Zweierlei Israel?", der derzeit am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften in Wien forscht. Auschwitz wurde für die Zionisten der Beweis dafür, dass es ein Judentum im Exil nicht geben kann, weil die Juden keine Überlebenschancen in der Diaspora hätten.

Erinnerung verfolgt immer eine Absicht. Sie verändert sich bei Staaten aber genauso wie bei Menschen - wo das oft ohne jegliches Zutun rätselhaft passiert.

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