Im "Land der Demütigungen"
Zeitlupe
J. M. Coetzee, zweifacher Booker-Preisträger und Inhaber des Literaturnobelpreises des Jahres 2003, macht einen Unfall zum Ausgangspunkt seines neuen Romans: Paul Rayment, nicht unbedingt eine sympathische Figur, wird zum Pflegefall.
8. April 2017, 21:58
Paul Rayment, pensionierter Porträtfotograf, stürzt vom Velo, irgendein Raser hat ihn touchiert. Er, der bislang selbstständig, seit vielen Jahren allein stehend, "durchs Leben glitt", wird für den Rest des Buches auf fremde Hilfe angewiesen sein, ein Bein muss amputiert werden. Ein Unfall.
Wenn er den Atem anhält, kann er das unheimliche Kriechen seines misshandelten Fleisches hören, während es wieder zusammen zu wachsen versucht. Vor dem abgedichteten Fenster singt eine Grille ihr Lied.
Ein Desillusionist macht sich Illusionen
Paul, der drahtige, groß gewachsene, etwas exzentrische Sechziger verweigert seinem gestutzten Leben beharrlich einen neuen Sinn. Er weigert sich sogar, eine Prothese zu tragen, um "natürlicher" zu wirken. Ganz Desillusionist, versucht er erst gar nicht, mit seinem amputierten Bein über den eigenen Schatten zu springen.
Das ändert sich, als ihm die aus Kroatien stammende, um vieles jüngere Pflegerin Marijana zugewiesen wird, eine Helferin mit Feingefühl. Sie bevormundet ihn nicht. Bei ihr weiß er sich vor dem "Land der Demütigungen", das mittlerweile sein Zuhause ist, sicher. Jedenfalls so lange, bis er ihr seine Liebe gesteht. Bis er, der Desillusionist, sich plötzlich Illusionen macht.
Ungebetener Gast
Ein Mann und eine Frau, an einem warmen Nachmittag, hinter verschlossenen Türen. Sie könnten ebenso gut Sex miteinander haben. Aber es ist nichts dergleichen. Es ist nur Krankenpflege, Fürsorge.
Ausgerechnet in jenem spannenden Moment klingelt die Schriftstellerin Elizabeth Costello, erkennbar das Alter Ego des Autors J. M. Coetzee, eine beherzte wie penetrante alte Dame, an Pauls Tür und quartiert sich einfach ein.
Elizabeth Costello, Titelheldin bereits in Coetzees letztem Roman, wo sie unter anderem umstrittene Vorträge über die Ähnlichkeit von Tierschlachthäusern und Konzentrationslagern hielt, hört sich im Gegensatz zu ihrem Erfinder sehr gern referieren und predigen. Mit ihrem Auftritt wird das Buch geschwätzig. Paul verkümmert zum Knetmännchen und muss dies auch noch ausdrücken:
Mich hat die Zeit, die Geschichte, überholt.
Vollkommenheit unerwünscht
Der erbarmungswürdige Paul fühlt sich mehr und mehr als Produkt, als Marionette der Schriftstellerin Costello. Er fürchtet zu Recht, dass sie, die wiederum das Produkt Coetzees ist, aber ziemlich frei schalten und walten darf, ihn als Figur in ihrem neuen Roman auszuschlachten gedenkt. Sie findet tatsächlich Gefallen an ihm, will ihm, nein, nicht Beine machen, aber erreichen, dass er es wert ist, in einem Buch verwendet zu werden.
Leben Sie wie ein Held. Das lehren uns die Klassiker. Seien Sie eine Kampffigur. Wozu sonst leben?
Doch Paul lässt sich nicht vervollkommnen. Niemand kann ihn aus der Reserve locken, nicht einmal ein Blind Date mit einer wirklich blinden Schönheit, das die zweifelhafte Freundin für ihn arrangiert. Paul ist gegen Veränderungen immun.
Machtwort des Autors
Resümee des verzwickten innerliterarischen Machtspiels um Romanfiguren und ihre Autoren, das dieser Roman auch ist: Niemand entkommt seinem verpatzten Leben.
Ganz zuletzt spricht der wahre Meister, nämlich der Autor J. M. Coetzee, ein Machtwort und sorgt dafür, dass Paul die Costello abblitzen lässt. Coetzee will sein Geschöpf mit niemandem teilen, selbst wenn er bei ihr auf wenig Gegenliebe stößt. Wie schreibt er so einfach und schön?
Wenn man tief genug liebt, ist es nicht nötig, wider geliebt zu werden.
Buch-Tipp
J. M. Coetzee, "Zeitlupe", aus dem Englischen übersetzt von Reinhild Böhnke, S. Fischer Verlag, ISBN 3100108337