Berlin als Hauptperson

Abtrünnig

Die eigentliche Hauptperson in Reinhard Jirgls neuem Roman ist Berlin. Um die Stadt herum baut der Autor eine Geschichte, die auch durch ihre Sprachexperimente besticht. Ein beeindruckendes Werk, wenn man als Leser gewillt ist, sich darauf einzulassen.

Berlin ist die eigentliche Hauptfigur in Reinhard Jirgls neuem Roman mit dem düster-verheißungsvollen Titel "Abtrünnig". Zwei Männer stehen im Zentrum des Geschehens: Der eine, Grenzsoldat an der deutsch-polnischen Grenze, leidet unter dem Verlust seiner Frau und verhilft einer jungen Ukrainerin zur Flucht nach Berlin. Der andere, ein Journalist aus Hamburg, hat sich in seine Therapeutin verliebt und folgt ihr, als sie mit ihrem Mann, einem Immobilienmakler, in die deutsche Hauptstadt zieht.

Düster und heiter zugleich

Jirgls Berlin ist so etwas wie ein Labyrinth, manchmal düster und beängstigend, manchmal chaotisch und durcheinander, manchmal auch freundlich und heiter. Durch dieses Labyrinth arbeiten sich die beiden Protagonisten des Romans, während der Text auf einem feinen Grat zwischen Wirklichkeit und Vision dahinbalanciert.

Reinhard Jirgls Roman hat es in sich: Nicht nur seine Länge von rund 550 Seiten macht ihn zu einem Monumentalwerk, auch sprachlich und inhaltlich hebt sich "Abtrünnig" deutlich von bisher Gelesenem ab. Jirgl benutzt seine eigene Orthografie, ein kühnes Sammelsurium, in dem oft Worte durch Ziffern oder Zeichen ersetzt werden und die Interpunktion ihren eigenen Regeln folgt.

Die gängigen Regeln sprengen

Es ist ein in vielerlei Hinsicht außergewöhnliches Buch, das Jirgl hier vorlegt, bei dem schon die Form sich den gängigen Regeln des Romans entzieht, ebenso wie der Inhalt. Jirgl erzählt, aber er erzählt auf seine eigene Art und Weise, mit Einschüben und Exkursen, er mischt essayistische Texte mit erzählerischen Passagen, springt unbeirrt zwischen Poesie und Pragmatismus hin und her und findet doch immer einen gleichbleibenden Unterton, der das Ganze davor bewahrt, in zu viele Teile zu zerfallen. Manchmal ist er ironisch, süffisant und fast burlesk.

Jeder=andere vermutlich wäre vor Freude an die Decke gesprungen: !Geldhaben=In-Sicherheit-sein, !Festengrund-unter-den-Füßen & zeitlebens !ausgesorgt haben: Sie müssen mich für nen düster vergrübelten Knilch halten, dem niemand & nichts etwas rechtmachen kann.

Manchmal wiederum befleißigt er sich einer düster-poetischen Sprachgestaltung.

Irr=lichternd diese Frühestunde, aus schon vergangnem Sommer holt sie in die Lüfte noch einmal den weißen Duft von Robinien zurück, eine bukolische Reprise, & Fetzen Stadtgeschrill, trompetengelb -. Asphalt & Stein, brennend unter den Füßen & grell vor Licht die Augen. Lieben - in der Unbeständigkeit aller flammendheißen Musik... Unsere Worte voll Nacht u Erde, in waghalsigem Gelände gefunden, sie lassen uns taumelnd zurück auf den Planken eines Narrenschiffs, prallend gegen die festen Stadtlebensgestade...

Eigener Zauber

Leicht macht es Reinhard Jirgl seinen Lesern sicherlich nicht, mit seinem unruhigen Erzählstil, seinen inhaltlichen Ausflügen in die eine oder die andere Richtung oder seiner kreativen Wort- und Zeichensetzung. Aber ob man nun Jirgls Literatur mag oder nicht: Mit "Abtrünnig" hat der Autor ein beeindruckendes Werk geschaffen, das einen ganz eigenen Zauber entfaltet.

Buch-Tipp
Reinhard Jirgl, "Abtrünnig", Hanser Verlag, ISBN 3446206582