Gestohlene Kindheit
Der Fall Whiteman - Teil 1
Im September 2005 hat der Nationalrat beschlossen, mit den Restitutionszahlungen an rund 20.000 noch lebende jüdische NS-Opfer zu beginnen. Eine davon ist die 1938 emigrierte Wienerin Dorit Whiteman, die in Wien eine glückliche Kindheit verbracht hatte.
8. April 2017, 21:58
Dorit Whiteman wünscht sich persönliche Gerechtigkeit. Die 81-Jährige ist verärgert, traurig und wütend. Jahrzehnte ist es her, dass Fremde in die Wohnung ihrer Familie eindrangen und Möbel, Bilder, Geschirr, einfach den gesamten Hausrat mitnahmen. Man stahl ihr dadurch auch einen Teil ihrer Kindheit.
Bildung wird groß geschrieben
1938 war Dorit 14 Jahre alt und Wien - speziell der erste Bezirk - bedeutete die Welt für das rot-blonde Mädchen. Dorits Wien wurde umrissen von den engen Gassen, die den ersten Bezirk durchziehen. Die Wohnung in der Wipplingerstraße und ihre Schule, die so genannte Stern-Schule, im angrenzenden neunten Bezirk. Die wurde von ihrer Mutter Lilian Bader geleitet, einer promovierten Chemikerin und eine der ersten Studentinnen an der Universität Wien. Der Vater, Edwin, ein praktischer Arzt und Philantrop, hatte seine Praxis an die Familienwohnung angeschlossen.
Vater Edwin Bader nimmt Dorit immer wieder aus der Schule, um mit ihr lange Spaziergänge durch den Wienerwald zu machen. Das sind Stunden, in denen die Phantasie der beiden aufblüht und sie die Zeit vergessen lässt. Diese Ausflüge sind der Mutter Lilian Bader, in ihrer Rolle als gestrenge Schuldirektorin, natürlich gar nicht recht. Lilian will, dass ihre Töchter, Hannah und Dorit, mit Disziplin und Strenge erzogen werden.
Antisemitismus wird spürbar
Sie ist wohl behütet, die junge Dorit und ihre Kindheit fröhlich und unbeschwert. In den schweren wirtschaftlichen Zeiten der 1930er Jahre nicht unbedingt der Normalfall - vor allem für ein jüdisches Kind. Die Eltern wissen, was politisch vor sich geht und fürchten die prekäre Lage, in der sich Österreich befindet - schwer getroffen von den wirtschaftlichen Krisen und gebunden an die Auflagen von St. Germain. Österreich findet sich zudem noch eingebettet zwischen zwei aggressiv expandierenden faschistischen Staaten, Deutschland und Italien. Antisemitismus ist spürbar auf den Straßen Wiens, jedoch noch nicht offiziell gefördert und unterstützt.
Dorit wächst auf, wie man es sich für ein Kind nur wünschen kann. Ohne Angst und ohne von den Grausamkeiten der Erwachsenen etwas mitzubekommen. Im März 1938 können aber selbst die Eltern Bader ihrer Tochter die Furcht nicht nehmen, sie vor dem schützen, was auf alle jüdischen Bürger Österreichs zukommt.
Über Nacht ist alles anders
Es ist der Vorabend zum 12. März 1938, dem Tag des Anschlusses. Kanzler Schuschnigg dankt in einer Radiosendung von seinem Regierungsamt ab. Selbst in diesen Momenten soll Dorit nicht merken, was vor sich geht. Sie schläft. Mit Hilfe einiger Schlaftabletten aus Vaters Apotheke bekommt sie nicht mit, dass sich über Nacht alles geändert hatte. Es gibt nur wenige Möglichkeiten für die Eltern, sich selbst und ihre Töchter zu retten. Erstmals ahnt Dorit, dass ihre Eltern verzweifelt und vielleicht hilflos sind.
Die Anzahl jüdischer Selbstmorde in Wien steigt in den Monaten nach dem März 1938 enorm. Ein Bleiben in diesem Land scheint für die Juden Österreichs ausgeschlossen. Wie Tausende andere beginnen die Baders, ihre Flucht zu planen. Schnell muss es gehen, denn Antisemitismus und Rassenverfolgung sind nun offizielle Politik. Plünderungen jüdischer Geschäfte, Verfolgungen, physischer und psychischer Terror werden zum Alltag.
Erste Station: England
Um Auszureisen braucht es einen Reisepass, sowie ein Visum für eines der wenigen aufnahmewilligen Länder. Es kommen nur so ferne und fremde Länder wie Uruguay oder Norwegen in Betracht, um ein neues Leben aufzubauen.
Nach Monaten des bangen Wartens vor Botschaften und staatlichen Ämtern erhält die Familie Anfang September 1938 ein Visum für England. Der Vater fürchtet die Reise durch das Deutsche Reich und besorgt deshalb Flugtickets für eines der seltenen Passagierflugzeuge nach England. Nur mit leichtem Gepäck fahren die Baders schließlich nach Schwechat. Die Flucht beginnt.
Neue Heimat USA
Trotz der strikten Quotenregelungen findet Ende der 30er Jahre fast ein Viertel aller vom NS-Regime Verfolgten in den USA Zuflucht. So auch Familie Bader. Wie die anderen 30.000 österreichischen Flüchtlinge, die zwischen März 1938 bis zum Kriegseintritt der USA im Dezember 1941 in die neue Heimat fanden. Familie Bader lässt sich in New York nieder, das zur Immigrantenmetropole der deutschsprachigen Juden wird.
Heute lebt Dorit Whiteman in einem Häuschen in Kew Gardens, einem wohlhabenden aber verschlafenen Viertel von New York. Neben der privaten Praxis findet sie dort zwischen Büchern und Kunstgemälden die Ruhe und die Kraft für ihre Arbeit als Psychologin. Ihr Forschungsschwerpunkt sind Patienten mit traumatischen Erlebnissen und plötzlich veränderten Lebensbedingungen.
Tipp
Einen Bericht von Kurt Fraser, ehemaligem Soldat der britischen Armee, über seine Flucht nach England und der Heimkehr nach Wien finden Sie in 2005.ORF.at.
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Dorit Whiteman