Alle Probleme Russlands unter dem Brennglas
Tschetschenien
Vor zehn Jahren lebte in Tschetschenien eine Million Menschen, heute sind es rund 700.000. Nach Schätzungen wurden in dieser Zeit mindestens 100.000 Zivilisten getötet. Der Krieg, der offiziell nie begonnen, aber schon oft beendet wurde, geht weiter.
8. April 2017, 21:58
"Ni chrenea nam eto tschetschna" - "Zum Teufel, was brauchen wir Tschetschenien". Die Aufschrift auf dem Transparent einer Moskauer Demonstrantin des Jahres 1995 verriet in aller lakonischen Abfälligkeit den liberalen Geist der frühen 1990er Jahre.
Erste Panzer
Boris Jelzin erklärte damals: "Jedes Subjekt der Russischen Föderation kann sich so viel Souveränität nehmen, wie es will." 1994 schickte er erstmals Panzer nach Itschkeria, der erste tschetschenische Krieg hatte begonnen.
Zwar hatte schon damals der russische Informationsminister Jegorow gemeint: "Die Journalisten sollten sich entscheiden, ob sie für Russland oder für eine anderen Staat arbeiten", aber die demokratische Kriegsberichterstattung erlebte mit allabendlichen Bildern von Blutbädern und russischen Verlusten im Fernsehen ihre Hochzeit.
Tiefpunkt Putin
Der diskursive Tiefpunkt in Bezug auf den Krieg in Tschetschenien blieb dem heutigen Präsident Putin vorbehalten. Er sagte 2002: "Wir werden den letzten Terroristen am Häusel zerquetschen." Anatolij Pristawkin, jahrelang Vorsitzender der Begnadigungskommission beim Präsidenten, bezeichnete den Putin-Ausspruch als "unwürdig für die russische Intelligenzija". Russland sei schließlich ja noch immer ein Vielvölkerstaat.
Als der Krimiautor Boris Akunin, selbst Georgier, während der Geiselnahme im Moskauer Musicaltheater "Nord-Ost" öffentlich eine Verhandlungslösung verlangte, musste er dafür eine Menge von Rüffeln von offizieller Seite einstecken.
Rassistische Meinungsmache trägt Früchte
Nach der Erklärung der Tschetschenen, den "Krieg in die russischen Städte zu tragen", hat auch die jahrelange xenophob-rassistische Meinungsmache von offizieller Seite Früchte getragen. Der Moskauer Bürgermeister Luschkow spricht seit langem nicht mehr von "Tschetschenen", Osseten oder Inguschen, er nennt sie allesamt "Personen kaukasischer Nationalität" und weiß, was der russische Volksmund darunter versteht: "Tschornaja shopa" - "Schwarzarsch".
Für Lew Gudkow, Soziologe am Moskauer "Lewada-Zentrum", sind die die Ergebnisse einer jüngsten Studie nicht mehr verwunderlich: 25 Prozent der befragten Russen haben vor Kaukasiern Angst, zwischen 60 und 70 Prozent sind dafür, "Personen kaukasischer Nationalität" auszuweisen, ihnen die Aufenthaltsgenehmigung für russische Städte abzunehmen, sie kurz "hinauszuwerfen". Seit den Bombenanschlägen hat sich die Stimmung denn auch drastisch gewandelt: Man muss nur mit der Moskauer U-Bahn fahren. Kaum betritt eine solche "Person kaukasischer Nationalität" den Waggon, weicht die Menge zurück.
Lösung ist ferner denn je
Eine sachliche Diskussion des Tschetschenien-Krieges findet heute nicht mehr statt; auch die inneren Schwierigkeiten der Tschetschenen kommen nicht mehr zur Sprache. Seitdem sich Präsident Putin nach dem 11. September 2001 der internationalen "Antiterror-Allianz" pro forma angeschlossen hat, wird er - zum großen Unmut aller noch vorhandenen kritischen Stimmen - von den Amerikanern, vom Europarat und der OSZE in Ruhe gelassen.
Was die renommierte Journalistin Anna Politkowskaja zum deutschen Putin-Freund Gerhard Schröder zu sagen hat, ist nicht einmal mehr abfällig. Die Lösung des Tschetschenienkonflikts ist im elften Jahr des Krieges, der offiziell nie erklärt, dafür aber mehrfach "für beendet" erklärt wurde, ferner denn je. Die Hoffnung, dass sich der Krieg, in dem die russische Seite schrittweise alle verhandlungsbereiten tschetschenischen Führer als Terroristen bezeichnet und umgebracht hat, die Hoffnung, dass sich dieser Krieg von selbst erschöpft, hat sich als trügerisch erwiesen. Und die von Moskau eingesetzten tschetschenischen Statthalter scheinen mit der sich ausbreitenden Korruption genauso wie die russischen Militärs zufrieden sein. Milliarden Rubel aus Wiederaufbauprogrammen verschwinden ganz einfach.
Wen intressiert das noch?
Spricht man heute mit Russen über Tschetschenien und die Terroranschläge der letzten Jahre, bekommt man fast nur noch ein Achselzucken als Antwort: "Nadojela". "Es interessiert mich nicht". Leider ist das auch mittlerweile die Haltung der meisten russischen Journalisten. Mit dem immer wieder zu hörenden Zusatz "Unser Staat ist nicht mehr im Stande, seine Bürger zu schützen". Das wurde immer wieder deutlich gemacht.
Von offizieller Seite zeigt man auch kein besonderes Interesse: Von den Opfern der ominösen Sprengstoffanschläge im Moskau des Jahres 1999 sind noch immer sechs Leichen nicht identifiziert. Die Moskauer Stadtverwaltung erklärte dazu lakonisch, dass es keine Mittel für die kostspieligen DNA-Analysen gäbe.
Prüfstein der Demokratie
Sergej Enikolopow, Psychologe der Russischen Akademie der Wissenschaften, formulierte das zentrale Problem der heutigen russischen Gesellschaft, für die der Tschetschenienkrieg längst zu einem Prüfstein der Demokratie wurde, folgendermaßen:
"Wir leben in einem Land ohne zivile Gesellschaft. Alle warten auf den guten Führer, der alles gut macht. Es geht dabei nicht so sehr um die noch immer stalinistischen Machstrukturen des Landes, wir funktionieren noch immer nach den Grundmustern des Zarenreiches."
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