Sprach- und Erzählkünstler von klassischem Rang

Der Augenblicksmaler

Alfred Polgar wollte nicht Sozialkämpfer oder witziger Feuilletonist, nicht präziser Analytiker oder einfühlsamer Erzähler, sondern alles zugleich sein: einer, der konsequent nachzudenken und das Gedachte kurz und pointiert aufzuschreiben vermag.

Dass der literarische Rang Alfred Polgars das Niveau jener weit übertrifft, die ihn gern, mit heimlicher Häme, als "Meister der kleinen Form" apostrophieren, das dämmerte schon den Zeitgenossen. Dazu kam natürlich das - allerdings sehr heimliche - schlechte Gewissen, dass der Wiener Polgar, als er 1933 aus Berlin remigriert war, fünf Jahre später auch aus seiner Geburtsstadt fliehen musste.

Als er, inzwischen 77-jährig, 1950 wieder europäischen Boden betrat - sehr vorsichtig! -, sorgten die Wiener für feierliches Getöse, "als sei der favourite son zurückgekehrt" (Polgar) - obwohl man doch nur einen Juden verjagt hatte.

Erkundungsgänge durch Wien

Hans Weigel, Polgar-Bewunderer und selbst Remigrant der ersten Stunde, sorgte dafür, dass Polgar den neu geschaffenen "Publizistikpreis der Stadt Wien" als erster verliehen bekam, auch, um des Geehrten profundes Misstrauen auszuräumen, der besonders in Österreich Falschheit und Feindseligkeit vermutete und der schon bei seinem ersten Nachkriegsbesuch im vormals geliebten Salzburg die Vermutung äußerte, dass es in dieser Stadt immer noch mehr Nazis als Einwohner gebe.

Den Publizistikpreis ließ Polgar durch einen Freund entgegennehmen - seine spärlichen Wien-Besuche nutzte der alte Polgar vielmehr für Erkundungsgänge; etwa hinüber in seinen ersten Wohnbezirk, die Leopoldstadt, wo ihn nicht nur das Kriegs- und Nachkriegselend aus leeren Fensterhöhlen angrinste, sondern auch ein gemütlicher Wiener Hausmeister, der - als sich Polgar nach dem Verbleib seiner Schwester erkundigte, die 1938 noch hier gewohnt hatte - mit demonstrativer Wurschtigkeit sagte: "Die? Die ham s' abg'holt" und weiter seinen Dreck von einer Ecke in die andere kehrte.

Aber das offizielle Wien ließ nicht locker: Alfred Polgar, das sei ein heimlicher Klassiker, war allerorten zu lesen; was Polgar mit der wehmütig-ironischen Feststellung quittierte, dass in Österreich offenbar ein empfindlicher Mangel an Klassikern ausgebrochen sei und er da jetzt aushelfen solle.

Feines Sensorium für alles

Er hatte, und das ist in den 20 Bänden seiner Geschichten, Erzählungen, Skizzen und Aphorismen wie auch in seinen Theaterkritiken jederzeit nachzulesen, ein feines Sensorium für alles, aber auch alles Menschliche, ob es sich nun selbst darstellte und von ihm nur beobachtet zu werden brauchte, oder ob der Dichter - welcher Polgar auch war - seinen Figuren erst auf die kurzen Beine helfen musste, um ihnen gerecht zu werden. Gerecht! Alfred Polgar stellte nicht bloß, jedenfalls nicht, wenn das Kleine nicht mehr sein wollte als klein. Der politischen Obrigkeit oder der Justiz, die sehr wohl großmächtig sein wollte, war er gern beim Lächerlichmachen behilflich.

Der "weltberühmte Publizist"

Das Wiener Theater in der Josefstadt lag ziemlich genau dazwischen, als es sich 1954 noch rasch mit Polgars Namen zu schmücken wünschte und den damals 81(!)-jährigen "weltberühmten Publizisten" zum "Literarischen Beirat" ernannte. An so was verschwendete Polgar keinen literarischen Gedanken: "Ich habe", so schrieb er in einem Brief an die ihm befreundete Witwe Franz Molnars, "nicht die leiseste Ahnung, was ich dort machen soll. Und schon gar nicht das leiseste Bedürfnis danach."

Polgar hatte danach weder das Josefstädter Theater noch Wien betreten, als er in der Nacht zum 24. April 1955 an seinem zweiten Herzinfarkt starb. Im Hotel Urban in Zürich, wo er seinen europäischen Aufenthalt genommen hatte. ("Die Fremde ist nicht Heimat, aber die Heimat fremd geworden".)

Charakter, Haltung, Menschlichkeit und Witz

Selbstverständlich ist Alfred Polgar trotz solchen spät berufenen Adoranten ein literarischer Klassiker, ein Sprachkünstler allerhöchsten und ganz eigenartigen Ranges, und es ist erfreulich, dass nun, im 50. Jahr nach seinem Tod, die meisten seiner Texte in noch dazu wohlfeiler Ausgabe greifbar sind.

Vor allem aber repräsentiert der Seelenforscher Polgar Charakter und Haltung und Menschlichkeit und Witz wie kein Zweiter. Einer, der die Kreisläufe des Lebens durch den Kurzschluss der Pointe nicht lahm legt, sondern überhaupt erst in Gang bringt.

Buch-Tipps
Alfred Polgar, "Das große Lesebuch", Rowohlt Verlag, ISBN 3499238063

Alfred Polgar, "Handbuch des Kritikers", ISBN 3552048359

Ulrich Weinzierl, "Alfred Polgar", Löcker Verlag, ISBN 385409423