Reich an Rentieren

Leben am nördlichen Polarkreis

Sie leben am östlichsten Zipfel des eurasischen Kontinents, direkt am nördlichen Polarkreis. Sie selbst nennen sich Luoravetlan, "echte Menschen". Die russischen Eroberer gaben ihnen den Namen Tschuktschen, das bedeutet "reich an Rentieren".

Erstaunliches berichten die Ethnologen über die Luoravetlan bzw. die Tschuktschen: dass sie ohne Probleme im Freien schlafen können, dass sie zwei Wochen lang feuchte Kleider tragen können, ohne sich zu erkälten, und dass Temperaturen von minus 30 Grad als Hitze gelten. Zumindest heißt es, dass diese Temperatur die Tschuktschinnen schon bei einfachen Tätigkeiten wie Nähen zum Schwitzen brächte und sie sich deshalb zur Abkühlung Schneebälle in den Ausschnitt stopften.

Und das in einer Region, die den russischen Herren so unwirtlich erschien, dass sie ihre ganzen Unerwünschten dort ansiedelten: Bis 1987 wurde in den berüchtigten Lagern am Kolyma-Fluss an der Westgrenze der seit 1993 autonomen Region Tschukota über und unter Tage nach Gold geschürft.

"Ein sinnliches Volk"

Weil Ethnologen am Sexualleben ihrer Forschungsgegenstände immer höchst interessiert sind, erfahren wir auch, dass bei den "echten Menschen" (= Luoravetlan) bzw. den Tschuktschen (russisch für "reich an Rentieren") der Grundsatz gilt: Ein Ring am Finger ist kein Riegel an der Tür, beziehungsweise: Verheiratet sein heißt nicht zur Sklaverei verdammt.

Douglas Botting beschreibt die Situation recht drastisch: "Sie sind ein sehr sinnliches Volk, erotisch in ihren Gesten und unzüchtig in ihrer Sprache. Jungfrauen nach der Pubertät sind eine Seltenheit und Ehebrecher Legion."

Langjähriger Widerstand

Erstaunliches berichten auch die Historiker: Die Tschuktschen widersetzten sich am längsten von allen sibirischen Völkern der Annexion durch die Russen. In alte japanische Rüstungen gekleidet, überfielen sie mit Speeren, Lanzen und gestohlenen Steinschlossgewehren Kosakenbanden und russische Kolonisten. Erst 150 Jahre nach dem "Erstkontakt", im Jahr 1789, erklärten sie sich bereit, dem "armen weißen Häuptling" geringfügige Abgaben zukommen zu lassen.

Die Eroberer vergalten es, indem sie ihnen die Pocken, die Syphilis und den Wodka brachten, was ihre Bevölkerungszahl auf 10 Prozent reduzierte. Heute dürfte es (laut Wikipedia) 25.000 Tschuktschen geben. In der 719.800 Quadratkilometer großen Autonomen Region Tschukota - das ist 8,5 Mal so groß wie Österreich oder doppelt so groß wie Deutschland - leben insgesamt 51.410 Menschen, 11.753 davon in der größten Stadt Anadyr.

Alles was existiert, lebt

Die zum Teil sehr brutal durchgeführte Russifizierung - man schielte schon damals nach den vermuteten überreich vorhandenen Bodenschätzen - setzte elf Jahre nach der Oktoberrevolution ein. Viele tausendjährige Traditionen mussten aufgegeben werden. Während aber das Schamanentum fast vollständig ausgerottet wurde, blieb der Glaube lebendig: "Alles was existiert, lebt. Die Lampen gehen herum. Die Mauern der Häuser haben ihre eigenen Stimmen. Die Häute der Schlafsäcke sprechen in der Nacht. Die Geweihe, die auf den Gräbern liegen, erheben sich in der Nacht und ziehen in Prozessionen um die Grabhügel, während die Toten aufstehen und die Lebenden besuchen."

Die US-amerikanische Anthropologin Patty Gray, die immer wieder bei Tschuktschenfamilien zu Gast ist, berichtet begeistert von den "Küchentisch"-Gesprächen mit ihren sprachgewandten, schlagfertigen und witzigen Gastgebern, die zudem außerordentlich an Geschichten interessiert wären. Tatsächlich hat es ein Tschuktsche geschafft, sich mit seinen Geschichten an die Weltspitze zu schreiben: Juri Rytcheu. Sein letztes Buch "Der Mondhund" schrieb er für seine sterbenskranke Frau Galja, die den Großteil der Geschichte noch hören konnte, bevor sie 14 Tage vor Vollendung des Buches starb.

Übrigens Sprache: Im Deutschen hat sich ein Wort der Tschuktschensprache eingebürgert: "Ketaket" ist der Lachs, der uns den Keta-Kaviar schenkt.

Hör-Tipp
Terra incognita, Donnerstag, 29. November 2007, 11:40 Uhr

Buch-Tipps
Juri Rytcheu, "Der Mondhund", Unionsverlag, ISBN 3293003516

Gudrun Ziegler, "Der achte Kontinent. Die Eroberung Sibiriens", Ullstein Verlag, ISBN 3550076126

Hörbuch-Tipp
Juri Rytcheu, "Traum im Polarnebel", gelesen von Manfred Zapatka, Der Hörverlag

Mehr dazu in oe1.ORF.at

Links
Unionsverlag - Juri Rytcheu
Wikipedia - Tschuktschen
Patty Gray - Chukota-Site (englisch)