Vorzeigemodell Denizli

Bereit für die EU?

Am 3. Oktober sollen die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei beginnen. Die Türkei sei "zu groß und zu arm", lauten die wirtschaftlichen Bedenken vieler Türkei-Skeptiker. Wie EU-fit ist die türkische Wirtschaft tatsächlich?

Aus dem ganzen Land kommen Menschen nach Denizli, denn Arbeitslosigkeit gibt es hier nicht - noch nicht. Denizli ist Bademantelexport-Weltmeister. Die Textilindustrie hat die 300.000-Einwohner Stadt inmitten der kargen Landschaft Anatoliens zum Vorzeigemodell gemacht. In Städten wie diesen, entsteht ein Mittelstand, der das Rückrat der Wirtschaft bildet, sagen Ökonomen.

Bis vor zwei Jahren war in Denizli alles in bester Ordnung. Jährlich gehen Exporte im Wert von zwei Milliarden Dollar in die Welt. Dann kam die Billigkonkurrenz aus China, erzählt Tolga Demiray von Bademantelproduzent Oguzlar Tekstil.

"Die Chinesen zahlen ihren Arbeitern 50 Dollar im Monat, wir zahlen 600 Dollar im Monat, die Chinesen haben einen enormen Preisvorteil", sagt Demiray. Die Lohnkosten der Näherinnen hätten sich in den zehn Jahren verdreifacht. Weil die Unternehmen - ganz im Einklang mit dem türkischen Bemühen europäische Standards zu erreichen - mehr für Versicherung und Pensionsvorsorge ihrer Arbeiter zahlen müssen.

Einen großen Vorteil gegenüber China hat die türkische Textilindustrie noch: Die Qualität sei besser als in China, sagen Einkäufer. Langfristig werde sich die türkische Textilindustrie aber umstellen müssen, weg von der Produktion, hin zur Entwicklung von eigenen Marken, sagt Demiray.

Krasse Unterschiede

Im Osten und in vielen Teilen im Inneren des Landes sieht die Lage ganz anders aus. Der Großteil der Bevölkerung erhält sich von der Landwirtschaft, zum Verkauf bleibt oft nichts übrig. Besonders im Kurdengebiet im Osten des Landes sieht man bittere Armut: Häuser ohne Fenster und Türen, kein fließendes Wasser. Die Arbeitslosigkeit in Diabakir, der Hauptstadt im Kurdengebiet, beträgt etwa 50 Prozent, sagt Lezgin Yalcin aus dem dortigen EU-Informationsbüro. Besserung sei nicht in Sicht, weil die Menschen so viele Kinder bekommen und durch die politischen Konflikte keine Arbeit entsteht.

Die großen regionalen Unterschiede sind auch Teil der Debatte, ob die Türkei der EU beitreten soll. In der Region im Istanbul verdienen die Türken fast so viel wie Polen, EU-Mitglieder seit 2004 - und mehr als Bulgaren oder Rumänen, die wahrscheinlich 2007 beitreten werden. Im Osten des Landes verdienen die Menschen nur einen Bruchteil davon - etwa 1.500 Euro im Jahr, sagt Ahmet Cimenoglu, Chefökonom der türkischen Yapi Kerdi Bank.

Chancengleichheit für alle Länder

Trotzdem gäbe es keinen wirtschaftlichen Grund, die Türkei nicht in die EU aufzunehmen, wenn man Bulgarien und Rumänien in die EU lasse, argumentiert Cimenoglu. Wachstumsraten, Inflation, Arbeitslosigkeit und Verschuldung seien auf einem ähnlichen Niveau.

2001 stürzte die Türkei in eine Schuldenkrise, viele Banken wurden zahlungsunfähig, das Wachstum brach ein und die Inflation schnellte in die Höhe. Der Internationale Währungsfonds griff ein, und knüpfte dringend nötige Kredite an Strukturreformen, die im Vorfeld der EU-Beitrittsverhandlungen von der Regierung unter Recep Tayyip Erdogan forciert wurden

Licht und Schatten

Die wichtigsten Punkte: Eine unäbhängige Zentralbank, die gibt es schon. Dazu kommen die Vereinfachung des Steuersystems, eine Bankreform, mehr Effizienz im Sozialversicherungssystem und die Privatisierung von großen Industriebetrieben. All das ist derzeit in Gang. Noch hat die Türkei zehn Jahre Zeit die Reformen voranzubringen, bevor ein EU-Beitritt möglich wäre.

Der Anteil der Schattenwirtschaft an der türkischen Wirtschaft wird auf bis zu 50 Prozent geschätzt. Die jüngsten Reformen kämpfen gegen Korruption und Schwarzhandel. Deshalb trauen sich immer mehr ausländische Investoren ins Land. Zögerlich, investieren nun auch österreichische Firmen in der Türkei, vor allem Bau- und Hochtechnologiefirmen.

Der Ausblick auf den EU-Beitritt hat wirtschaftlich schon viel Gutes gebracht, da sind sich alle Experten einig. Die Argumente der Türkei-Skeptiker, die Türkei sei zu groß und zu arm um der EU beizutreten - könne man nicht gelten lassen, sagt der Ökonom Cimeoglu. Wirtschaftlich könnte die EU schon in fünf Jahren die Kriterien für einen EU-Beitritt erfüllen. Die eigentlichen Probleme lägen in der Politik.

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