Sozialreformen dringend notwendig
Adresse unbekannt
Allein in Istanbul sollen es 10.000 obdachlose Kinder und Jugendliche sein. Sie übernachten unter Brücken und auf Bahnhöfen, meist wagen sie sich erst mit Einbruch der Dämmerung aus ihren Verstecken, dabei immer auf der Hut vor Banden und der Polizei.
8. April 2017, 21:58
Eine kleine Containersiedlung im Westen der Stadt, die Autos der nahe gelegenen Autobahn kann man ebenso wenig ignorieren wie die Flugzeuge, die in Richtung Atatürk-Airport dröhnen. Hier liegt ein Heim für Burschen zwischen 18 und 24. Ihnen gemeinsam ist ihre Vergangenheit als Straßenkinder.
Irgendwann sind sie von zu Hause ausgerissen, weil sie geschlagen oder missbraucht worden sind, haben sich anderen angeschlossen und unter Brücken oder auf Bahnhöfen geschlafen.
Die Realität haben Emre und die anderen weggeschnüffelt: Vergewaltigung und Demütigung gehören dazu, auch die Organmafia hat es auf die Kinder, die niemand sucht, abgesehen. Mit Klebstoffen, Nagellack oder anderen acetonhaltigen Rauschmitteln. "So lässt es sich auch besser um Essen und Geld betteln", erzählt der 19-Jährige, der bald zum Militär gehen wird.
Neben ihm sitzt ein ruhiger, magerer junger Mann, Kemal. "Er hat zuviel von dem Zeug abbekommen", sagt der Betreuer. Seine Blicke bleiben lange an den Dingen der Umgebung hängen, er möchte auch nicht mit uns reden.
Bei einigen, die sich die Hemdsärmel wegen der Hitze hochgekrempelt haben, sind Schnitte zu sehen. Von den Pulsadern bis zur Beuge.
Verein "Hoffnungskinder"
"Die Kinder möchten sich so wieder spüren", erklärt uns Yussuf Kulca. Er leitet den Verein "Hoffnungskinder", eine Institution, die Straßenkindern helfen möchte, wieder einen Weg zurück in die Gesellschaft zu finden und eine Zukunft zu haben.
Yussuf Kulca lebte früher selbst auf der Straße. Die Meinung über die zerlumpten Kinder, die betteln und erst am Nachmittag aus ihren Verstecken kriechen, ist schlecht. Sie stehlen und sind gewalttätig, heißt es, aber, und jetzt wird der Sozialpädagoge heftig, es sind organisierte Gangs, die Menschen überfallen, ihre Handys stehlen und womöglich niederschlagen. Sie schieben ihre Verbrechen den Straßenkindern in die Schuhe. "Keiner würde ihnen Glauben schenken, nicht? Nur - wie sollen sie all die Verbrechen begehen, wenn sie ständig weggetreten sind von all den Drogen?"
Von wie vielen Kindern die Rede ist, weiß man nicht so genau: verschiedene Stellen gehen von bis zu 10.000 Straßenkindern in Istanbul aus, in der Türkei insgesamt sollen es zwischen 20.000 und 40.000 sein. Die Regierung hat einige Heime errichtet, das Haus, in dem Emre und seine Freunde leben, gehört nicht dazu. Für über 18-Jährige ist keine Unterstützung mehr vorgesehen.
Die Chance heißt Bildung
Yussuf Kulca erzählt von seiner Erfahrung als Streetworker. Die Kinder von damals, als der Verein gegründet worden war, sind inzwischen zwischen 23 und 30 Jahre alt. 80 Prozent von ihnen haben es geschafft: Manche sind zu den Eltern zurückgekehrt, viele haben einen Beruf . Den restlichen 20 Prozent konnte nicht geholfen werden: manche wurden bei Straßenkämpfen getötet oder an Drogen, sind unters Auto geraten während eines Drogenrauschs oder sitzen im Gefängnis.
Der Staat und die Gesellschaft muss an mehreren Hebeln ansetzen, sagt er: Bildung ist wichtig. Schon die Eltern sollten alle eine Ausbildung haben, dann müssen sie ihre Kinder nicht arbeiten schicken. Und für die Kinder heißt Bildung zugleich Zukunft.
Als Erstes muss dieses Vorurteil gebrochen werden, dass die Kinder weiterhin so leben müssen. Es geht jeden an. Es ist unsere Schuld dass die Kinder so geworden sind.
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