Musikalische Aufbauarbeit in der Türkei
Lehrer für die Moderne
Die türkische Musik klang dem großen Reformer der modernen Türkei, Mustafa Kemal Atatürk, einst zu arabisch. Er forderte eine Verbindung von westlicher und anatolischer Musik. Alle europäischen Musikgrößen wirkten in der Türkei und umgekehrt.
8. April 2017, 21:58
Fazil Say, Ferhan und Ferzan Oender, Güher und Süher Pekinel - das österreichische Publikum akklamiert türkischen Interpretinnen und Interpreten. Erstaunlich ist ihre Flexibilität, ihr Geschick zwischen Genres und Stilen zu surfen und der Trend zu modernen Dramaturgien.
Musikalische Gastfreundschaft
Das Klavierduo Pekinel tritt mit Jaques Loussier auf, spielt Bach im Jazz-Gewand; die Öender-Schwestern traten schon in der Harald Schmid Show auf, spielen Original-Raritäten wie Musik des Beethoven-Forschers Gustav Nottebohm genauso wie eine pfiffige Bearbeitung von Vivaldis "Vier Jahreszeiten in einer Fassung für zwei Klaviere. Ihr Sprecher bei Camille Saint-Saens' "Karneval der Tiere war auch schon Günther Jauch.
Was in der Politik noch unüberwindbar ist, schaffen die Musiker: Der künstlerische Leiter der Istanbul Art Foundation, der türkische Sänger und Filmemacher Zülfü Livaneli, singt mit dem Griechen Mikis Theodorakis abwechselnd des einen und des anderen Lieder im Duett.
Klassische türkische Musik
1923: Mustafa Kemal Atatürk ruft die moderne Türkei aus. Die klassische türkische Musik - und klassisch heißt hier strukturell reich, in Lehrtraditionen weitergegeben und in einem elitären Rahmen gespielt - klang Atatürk zu arabisch. Arabische Musik wurde verboten, wobei - wie immer - die Funktionäre es strenger nahmen als der Staatsgründer. Atatürk förderte daher westliche Musik und anatolische Volksmusik. Volksmusik wurde geordnet, gesammelt, archiviert.
1936 war auch Bela Bartok in der Türkei, lehrte seine türkischen Kollegen die Wertschätzung für anatolische Musik. Bartoks Mitarbeiter in der Türkei wurde Adnan Saygun. Saygun wurde der erste Dirigent des Symphonischen Orchesters des Präsidenten, der erste Komponist einer türkischen Oper. Jenes Orchester des Präsidenten hatte schon Donizetti als Dirigenten - und zwar nicht einmal als ersten, sondern als zweiten. Gegründet von Sultan Mahmut II, musste das Orchester 1924 nach Ankara übersiedeln.
1934 wurde Adnan Saygun sein Dirigent. 1935 empfahl Paul Hindemith (als Berater der türkischen Regierung) Ernst Prätorius als Chefdirigenten. Praetorius war wie viele andere aus Nazi-Deutschland geflohen.
Aufbauarbeit
Die Verbindungen zu den deutschen Lehrern sind fast in jeder türkischen Musikerbiografie gegeben. Die Pianistin Aysegul Sarica war eine Schülerin Ferdinand Statzers, eines legendären österreichischen Lehrers in der Türkei, der türkische Pianistengenerationen lehrte.
Statzer, Ferdi Bey genannt, konvertierte zum islamischen Glauben. Die Geigerin Sunna Kan hatte bei Licco Amar gelernt. Dieser war ein Quartettpartner Hindemiths, der anfangs noch die ottomanische Staatsbürgerschaft bekam und an diesen begeistert aus der Türkei schrieb: "Hier gibt es eine Welt aufzubauen - einen einzigartige Gelegenheit.
Furtwängler war von Vertretern der türkischen Regierung gefragt worden, wen er für die Aufbauarbeit empfahl und hatte Paul Hindemith genannt. Und der kam - von Furtwängler beraten.
Unterschiedliche Werte
Während Paul Hindemith nicht mehr vom Aufbau eines Konzertlebens nach europäischen Muster überzeugt war, und beim aktiven Musizieren beginnen wollte, hörte sich die Analyse des österreichischen Komponisten Joseph Marx vom türkischen Musikleben so an:
Da die Türkei bis in die neuere Zeit ohne Anschluss an die europäischen Kulturerrungenschaften lebte und erst in den letzten Jahren einen gewaltigen Schritt vorwärts tat, haben es dort die fortschrittlich gesinnten Musiker nicht leicht. Noch immer hängt man an der alten Musik, empfindet die Harmonie als überflüssig und störend. Das Volk hört am liebsten seine alten Lieder, beliebte Melodien zum Schwert- und Bauchtanz.
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Buch-Tipps
Verein Aktives Museum Berlin (Hrsg.), "Haymatloz - Exil in der Türkei", Ausstellungskatalog und CD ROM
"Hindemith-Jahrbuch 1986", Schott-Verlag, ISBN 3795701074
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Joseph Marx
Paul Hindemith