Förderung der türkischen Rechtsstaatlichkeit

Der Weg in die Moderne

Auf Grund des Drucks von Frauenorganisationen und mit Blick auf die EU hat die Türkei seit heuer einen modernen, progressiven Strafkodex. Wie weit der Weg zur adäquaten Menschenrechtsstandards noch ist, wird im kurdischen Südosten der Türkei deutlich.

"Es wäre ein Wunder, wenn wir der EU beitreten können. Es wäre eine Katastrophe, wenn wir es nicht können. Dann werden wir wirklich in der Hand der dunklen Kräfte sein, unter denen ich den Einfluss der USA und die hypernationalistischen Rechten in der Türkei verstehe."

Jale Parla, Professorin an der Sabanci-Universität in Istanbul, vertritt eine Ansicht, die auch diverse Menschenrechtsorganisationen teilen: dass nämlich die Annäherung an die EU einen positiven Einfluss auf die Festigung von Demokratie und Menschenrechten in der Türkei hat. Die in New York ansässige internationale Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch veröffentlichte anlässlich der Entscheidung der EU, am 3. Oktober 2005 mit der Türkei Gespräche über einen EU-Beitritt aufzunehmen, einen Bericht, in dem es heißt:

Die Entscheidung bedeutet eine Wegscheide ... Sie stellt eine echte Gelegenheit dar, die Fortschritte, die die Türkei in den vergangenen Jahren bei den Menschenrechten gemacht hat, zu festigen und zu vertiefen. Mit einer entsprechenden Regierungspolitik und weiteren Überprüfungen durch die EU könnte die Türkei ihr Potential verwirklichen als ein Land, das die Menschenrechte aller seiner BürgerInnen achtet und eine hässliche Vergangenheit von Folter und ethnischem Konflikt hinter sich lässt.

Erstmals Gleichberechtigung

Wichtige Fortschritte auf der rechtlichen Ebene hat die Frauenbewegung erwirken können. Das im November 2001 vom Parlament verabschiedete neue Zivilrecht schreibt erstmals die volle Gleichberechtigung von Frauen und Männern innerhalb der Familie fest. Im September 2004 wurde dann auch das neue Strafrecht vom Parlament gebilligt.

"Die Philosophie des alten Kodex ging dahin, nicht die Frauen zu schützen, sondern die Ehre, die Jungfräulichkeit, alle diese Konzepte, die dazu dienten, die Sexualität der Frau zu unterdrücken. All das wurde nun abgeändert", erklärt die Aktivistin Pinar Ilkkaracan. "Wir haben allerdings noch ein Problem mit den Ehrenmorden."

Selbstverständlich wird sich die türkische Realität nicht so schnell verändern, bloß weil es ein neues Strafrecht gibt. "Aber das Gesetz schafft die Basis, auf der wir nun für echte Gleichstellung kämpfen können", sagt Pinar Ilkkaracan.

Geschichte und Identität

Wie weit der Weg noch ist, wird in Diyarbakir im kurdischen Südosten der Türkei deutlich. Unter den infolge des Kriegs gegen die Kurdische Arbeiterpartei (PKK) vertriebenen Kurdinnen und Kurden sind viele noch Analphabetinnen. Die meisten wissen nicht einmal von den Reformen zugunsten der Frauen, die unter Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk in den 1920er und 1930er Jahren initiiert wurden.

In den Slumvierteln südostanatolischer Städte leben neben den infolge des Bürgerkriegs Vertriebenen heute auch Tausende Familien, die wegen Dammbauten ihre Dörfer verlassen mussten. Ankara preist das Südostanatolien-Projekts (GAP), ein gigantischen Wasser- und Staudammprojekt, als großartiges Entwicklungsvorhaben. Doch viele Einwohner der Region sehen eher einen Versuch der Regierung, das Kurdengebiet kulturell auszuhöhlen. Mit der Vertreibung durch Dämme verlieren die dort ansässigen Kurden einen Teil ihrer Geschichte und Identität. Durch den als nächstes geplanten Ilisu-Damm droht zudem Hasankeyf, eine bedeutende, Jahrtausende alte Kulturstadt, überflutet zu werden.

Viele Kurdinnen und Kurden setzen große Hoffnungen auf die EU, von deren Einfluss sie sich adäquate Menschenrechtsstandards in der Türkei erwarten. In der EU selbst steht es indes nicht zum Besten für die dort lebenden Türkinnen und Türken diverser ethnischer - auch kurdischer - Zugehörigkeit. Mehr als vier Jahrzehnte sind vergangen, seit die ersten türkischen Gastarbeiter nach Österreich und Westeuropa gekommen sind. Doch Integration fand einfach nicht statt.

Download-Tipp
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Buch-Tipps
Seyran Ates, "Große Reise ins Feuer. Die Geschichte einer deutschen Türkin", Rowohlt, ISBN 387134 4524

Andreas Goldberg, Dirk Halm, Faruk Sen, "Die deutschen Türken", LIT Verlag, ISBN 3825882322

Jürgen Gottschlich, "Die Türkei auf dem Weg nach Europa.", Christpoh Links Verlag, ISBN 3861533308

Udo Steinbach, "Geschichte der Türkei", C.H. Beck, ISBN 3406447430

Nermin Abadan-Unat, "Migration ohne Ende. Vom Gastarbeiter zum Eurotürken", Edition Parabolis, ISBN 3884023403

Sabine Strasser, "Beyond Belonging. Kulturelle Dynamiken und transnationale Praktiken in der Migrationspolitik 'von unten'", Habilitationsschrift, Human- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien

Zehra F. Arat (Hrsg.), "Deconstructing Images of 'The Turkish Woman'", Palgrave, ISBN 0312235062

Women for Women's Human Rights (Hrsg.), "Turkish Civil and Penal Code Reforme from a Gender Perspective", WWHR-New Ways, ISBN 9759267748

Andrew Mango, "The Turks Today", John Murray Publishers, ISBN 0719565952

Wolfgang Gust (Hrsg.), "Der Völkermord an den Armeniern 1915/16. Dokumente aus dem Politischen Archiv des deutschen Auswärtigen Amts.", zu Klampen Verlag, ISBN 3934920594

Taner Akcam, "Armenien und der Völkermord. Die Istanbuler Prozesse und die türkische Nationalbewegung", Hamburger Edition, ISBN 3930908999

Links
EU - Delegation der EU-Kommission in der Türkei
Human Rights Watch
PKK