Was Ilse Aichinger im Demel so alles einfällt

Unglaubwürdige Reisen

Ilse Aichinger schreibt viel im Demel, auf Briefumschläge und Speisekarten, auf Rätselhefte und Tagungsprogramme. Dort sind auch die Feuilletons und Kurzprosatexte entstanden, die nun in dem Band "Unglaubwürdige Reisen" versammelt sind.

Ilse Aichinger geht gern außer Haus: Tag für Tag zur gleichen Zeit verlässt die 84-Jährige ihre Wohnung in der Wiener Herrengasse; ein kurzer Vormittags-Spaziergang führt sie mit schöner Regelmäßigkeit ins Café Demel gleich ums Eck. Vom Personal, den so genannten Demelinerinnen, diskret umsorgt, gibt sich die Dichterin in der einstigen k.u.k.-Hofzuckerbäckerei den ortstypischen Vergnügungen hin: Kaffee trinken, Zeitung lesen, das Kommen und Gehen vor der Tortentheke beobachten, vor allem aber: schreiben.

Reisen in der Fantasie

Ursprünglich hat Ilse Aichinger die in den "Unglaubwürdigen Reisen" gesammelten Feuilletons für die Tageszeitung "Der Standard" geschrieben. Zeitlich reicht der Bogen vom Terroranschlag auf die Zwillingstürme in New York bis hin zum Literaturnobelpreis für Elfriede Jelinek. Ilse Aichinger unternimmt ihre Reisen vorwiegend in der Fantasie. In einem der Feuilletons heißt es:

Wenn einer eine Reise tut, so kann er nichts erzählen: Das fiel mir schon ziemlich früh auf. Die unglaubliche Sprachlosigkeit Gesellschafts- oder auch Einzelreisender. Sie reicht nicht zur Stille, umso mehr zur Stummheit. Das gibt dann Lichtbildervorträge: "Hier siehst du mich", aber wen sieht man, zwischen Eisbergen oder an Dattelpalmen gelehnt? Wieder nur sich selbst. Deshalb ist es mir lieber, immer dieselben Wege zu gehen oder dieselben Strecken zu fahren. Die Qualität der Entdeckungen wächst.

Begegnung mit Thomas Bernhard

Ilse Aichingers literarische Kopfreisen führen sie in den Kaukasus und nach Odessa zu Isaak Babel, nach Aberdeen zu Alfred Adler und nach Novi Sad zu Aleksandar Tisma. Auch an ihre Begegnungen mit Thomas Bernhard erinnert sich die Dichterin in mehreren Texten:

Bernhard hatte mir einmal gesagt, ich solle kommen, wenn ich Sorgen hätte, welche auch immer, und ich rief an, die Verträge von Suhrkamp schienen mir schwer durchschaubar. Drei Stunden später stand Thomas Bernhard bei uns, im Haus in Großgmain, in der Tür, sein Wagen schräg hinter ihm. Sein Kommentar war knapp: "Da kann man nichts machen."

In einem ihrer Feuilletons beschreibt Ilse Aichinger einen Besuch bei Thomas Bernhard im berühmten Ohlsdorfer Vierkantbauernhof. Der oft als Misanthrop verunglimpfte "Alpen-Beckett" erscheint da als geselliger Gastgeber, der seine Gäste mit Most und Kletzenbrot zu verwöhnen pflegte. Dass Thomas Bernhard in Österreich heute beinah als Nationaldichter verehrt wird, findet Aichinger zum Lachen:

"Sie würden ihn natürlich, wenn er noch am Leben wäre, weiter verfemen. Er ist kein Nationalschriftsteller. Er hat sich immer dagegen gewehrt, ein solcher zu sein. Er hat ja immer geschimpft über dieses Land." So Aichinger.

Reminiszenzen

Die Toten spielen eine wichtige Rolle in Aichingers Texten: Immer wieder beschwört die Dichterin Reminiszenzen an ihre Mutter und die geliebte Großmutter herauf, an Günter Eich, ihren 1972 verstorbenen Mann, und an Clemens Eich, ihren Sohn. Zu den Toten hat Ilse Aichinger ein spezielles Verhältnis: "Ich glaube, dass sie auf irgendeine Weise da sind, aber nicht auf eine Weise, die mir zugänglich ist."

Zurzeit erholt sich Ilse Aichinger in einem Sanatorium am Stadtrand Wiens von einer Erkrankung, die sie in ihrer Bewegungsfreiheit immer noch erheblich einschränkt. In ein paar Wochen, da ist sich die Autorin sicher, wird sie wieder in ihre Wohnung in der Herrengasse zurückkehren. Spätestens dann wird Ilse Aichinger auch die Besuche im Café Demel wieder aufnehmen. Die Zeit im Sanatorium vertreibt sie sich einstweilen mit Lesen, mit Scrabble-Spielen und Musikhören - vor allem aber: mit Schreiben.

Buch-Tipp
Ilse Aichinger, "Unglaubwürdige Reisen", S. Fischer Verlag, ISBN 3100005279