Fremde Sprache in neuer Heimat

Die Analphabetin

Agota Kristofs Erzählung ist ein deklariert autobiografischer Text. Lesen und Schreiben erweisen sich darin als existenziell bedeutsam, als Mittel gegen Einsamkeit und Verlust, als Artikulation von Widerstand.

Auf knapp neunzig Seiten, in elf Kapiteln, versammelt Agota Kristof Bruchstücke eines Lebens, dessen existenzielle Grenzen nur im und durch das Schreiben überschritten werden können. Diese Fragmente fassen das Erlebte in knappe, dichte Sätze, die sein Geheimnis, seine Verletzungen und sein Recht auf Diskretion nicht antasten.

Heimatland Ungarn

Was wir erfahren, lässt sich zwar schnell, aber trotzdem nur dürftig wiedergeben. Es konzentriert sich ganz auf die Erfahrungen, die für dich Ich-Erzählerin wesentlich sind in Bezug auf ihren Weg zur Schriftstellerin.

Wir erfahren von einem Kind, das mit seinen zwei Brüdern und seinen Eltern in einem kleinen, ungarischen Dorf aufwächst, "ohne Bahnhof und ohne Elektrizität". Im Alter von vier Jahren lernt es lesen, und zwar "alles, was gedruckt ist". Dieser erste Ort wird keineswegs als heile Welt skizziert, er bewahrt sich im Gedächtnis aber doch als Ort zum Wachsen. Danach, in den Jahren im Internat, d.h. "in etwas zwischen Kloster und Kaserne, zwischen Waisenhaus und Besserungsanstalt", taucht er wieder auf in den Versen, die sich die 14-Jährige vorm Einschlafen ausdenkt.

Gestern war alles schöner / Die Musik in den Bäumen / Der Wind in meinem Haar / Und in deinen ausgestreckten Händen / die Sonne.

Sprache als Bezug zum Gestern

Der Bezug zu diesem Gestern kann auch in den Jahren danach nur noch in der Sprache hergestellt werden. Denn während das Mädchen im Internat einen spärlichen Zuverdienst durch das Schreiben und Inszenieren von Possen für die Mitschülerinnen erwirbt, kommt der Vater ins Gefängnis und verpackt die Mutter als Hilfsarbeiterin Rattengift. Die Beziehungen zerbröseln, ohne Aussicht darauf, sich irgendwann wieder zu fügen.

Was von der Schulzeit darüber hinaus noch erzählt wird, ist der Tod Stalins 1953, die verordnete kollektive Trauer, die sich später in ein Entsetzen über die ideologische Indoktrination wandelt.

Neue "Heimat"

Die Flucht, zu der es 1956 nach der Revolution kommt - sie endet für die Erzählerin, ihren Mann und ihr Baby in der französischen Schweiz - führt, bei aller Unerträglichkeit in der eigenen Heimat, nicht ins "gelobte Land", sondern in eine soziale und kulturelle Wüste, und das, obwohl sie in materieller Hinsicht glückt.

Die 21-Jährige beginnt in einer Uhrenfabrik zu arbeiten; umgeben von Menschen, deren Sprache sie nicht versteht. Umgeben vom Rhythmus der Maschinen schreibt sie Gedichte und setzt konsequent ihren Weg als Schriftstellerin fort, über große Hürden hinweg.

Aufgezwängte Sprache

Obwohl sich die Protagonistin im Französischen jahrelang wie eine Analphabetin fühlt, schreibt sie in dieser Sprache ihre Romane. Dabei - und das ist das Erstaunliche daran - glättet Agota Kristof niemals den Konflikt, den die Tatsache schafft, dass diese Sprache keine freiwillig gewählte, sondern für immer eine aufgezwängte ist.

Ich spreche Französisch seit über 30 Jahren, ich schreibe es seit 20 Jahren, aber ich kann es immer noch nicht. (...) Aus diesem Grund nenne ich die französische Sprache eine Feindessprache. Es gibt noch einen anderen Grund, und das ist der schwerer wiegende: diese Sprache tötet allmählich meine Muttersprache.

Einfach und kunstvoll

Agota Kristofs Text schöpft nicht aus der Fülle des Lebens, sondern aus seinen Härten und Fluchtlinien - und das mit ganz wenigen Worten, in einem Stil, der zugleich einfach und kunstvoll ist.

"Die Analphabetin" hält die große Deutung zurück, sowohl die ihres eigenen Lebens als auch die der historischen Ereignisse, die es kreuzen und mitbestimmen. Sie stellt einfach nur das Einschneidende daran hin, besser gesagt: Weniges vom Einschneidenden, und zeigt, wie der Umgang mit der Sprache die Engpässe und Sackgassen öffnet, in die man sich nicht selber verläuft, sondern in die man - ziemlich grob - gestoßen wird.

Buch-Tipp
Agota Kristof, "Die Analphabetin", übersetzt von Andrea Spingler, Ammann Verlag, ISBN 3250600830