Ein Meinungsüberblick von Experten

Islam und Zivilgesellschaft

Noch bis Mitte des 20. Jahrhunderts schienen Christentum und Demokratie unvereinbar. Heute ist das anders. Heute erscheint der Islam vielen als eine Bedrohung der Demokratie. Sind Islam und Zivilgesellschaft überhaupt miteinander vereinbar?

Aaron Rhodes über den Begriff "Zivilgesellschaft"

Die Bürger und ihre Rechte: Das ist eines der zentralen Themen der Politik der letzten 200 Jahre. Aber ist dies auch ein Thema in den muslimisch dominierten Staaten des Nahen und Mittleren Ostens oder in Südostasien? Experten einer hochrangig besetzten Tagung der Diplomatischen Akademie in Wien verschaffen einen Meinungsüberblick.

Ist Demokratie und Islam vereinbar?

Über diese Frage gibt es die unterschiedlichsten Meinungen: Muslime betonen, ja, selbstverständlich vertragen sich Zivilgesellschaft und Demokratie, und finden Zustimmung bei westlichen Menschen; andere Bürger westlicher Staaten wiederum bestreiten dies heftig und finden sich dabei in Übereinstimmung mit Muslimen, die ebenfalls die Vereinbarkeit von Demokratie und Islam heftig dementieren. Wer hat Recht?

Was existiert, ist möglich

Weil in den meisten Staaten mit muslimischer Mehrheitsbevölkerung autokratische Regierungen an der Macht sind und der Islam in der Interpretation der Islamisten Pluralismus scheinbar nicht zulässt, wird häufig behauptet, in islamischen Gesellschaften könne es keine Zivilgesellschaft geben. Aaron Rhodes, Direktor der International Helsinki Föderation für Menschenrechte, widerspricht dieser Vorstellung vehement:

"Ein Grundsatz der Philosophie lautet: was existiert, ist möglich. Und Zivilgesellschaft existiert in vernünftigem Denken, sie existiert in intellektueller und spiritueller Freiheit, sie existiert, insofern Menschen bereit sind, politische Stereotype und Klischees zurückzuweisen. Sie existiert, insofern Menschen aus dem kollektiven Druck der Gesellschaft aussteigen, um Probleme selbständig und individuell zu lösen“.

Organisationen von Zivilgesellschaften

"In Ländern wie Ägypten oder Kuweit - in einem gewissen Ausmaß auch in Bahrain, Jordanien und dem Libanon - spielen Organisationen der Zivilgesellschaft eine bedeutende Rolle, wenn es um politische Reformen und um karitative und humanitäre Fragen geht", sagt der Soziologe Baqer al Najjar:

"Im Libanon und Ägypten beteiligen sich seit neuestem solche Organisationen auch massiv an politischen Reformen. Eine zweite Kategorie von NGOs wiederum ist ein verlängerter Arm der politischen Macht. Das kann man zum Beispiel in Syrien und Libyen sehen, früher auch im Irak und auch im Iran und in manchen Teilen des Mittleren Ostens. Die dritte Kategorie findet man in der Golfregion - in Saudi-Arabien oder in Amman, wo man eigentlich nicht von einer Zivilgesellschaft reden kann. Da gibt es nur einige wenige karitative Frauenorganisationen, die vor allem in humanitären Fragen engagiert sind".

Beispiel Türkei

Ein eigener Fall ist die Türkei, in der das Militär eine starke gesellschaftliche Kraft darstellt; zugleich ist eine islamistische Partei an der Regierung. Menschenrechtsverletzungen in allen Bereichen sind an der Tagesordnung. Der renommierte Schweizer Religionswissenschaftler und Islamspezialist Jacques Waardenburg schreibt dazu in einem Vortrag:

Es gibt eine langsame Konstituierung zivilgesellschaftlicher Gruppen, Vereine und Organisationen nicht nur säkularen, sondern auch islamischen Profils, einschliesslich der Frauen, die das Wirkungsfeld der Staatsmacht begrenzen. Türkische Menschenrechtsorganisationen - unterstützt von europäischen Partnern - versuchen dabei existierende Auswüchse der Menschenrechtsverletzungen zu bekämpfen und setzen sich mit türkischen zivilgesellschaftlicher Organisationen für eine Demokratisierung der Türkei ein.

Die Lage in Afghanistan und Südasien

Ganz anders ist die Situation in Afghanistan. Von einer Zivilgesellschaft kann in dem von drei Jahrzehnten Krieg zerstörten Land nicht die Rede sein, sagt Maryam, die Pressesprecherin der Frauenorganisation RAWA, die ihren wahren Namen nicht preisgeben will, denn - so sagt sie - für die RAWA zu arbeiten, sei auch heute noch lebensgefährlich. Denn außerhalb von Kabul seien noch immer die Warlords und Fundamentalisten an der Macht:

"In großen Städten wie Kabul ist es ein bisschen anders; hier haben einige Gruppen der Zivilgesellschaft begonnen, sich zu organisieren bzw. zu reorganisieren. Es gibt eine ganze Menge politischer Gruppen, Zeitschriften, Publikationen, politische Bewegungen, aber sie haben noch keine Erfahrungen, wie man in einer demokratischen Gesellschaft lebt; sie sind nicht frei und sicher, denn die Fundamentalisten bedrohen jeden, der gegen ihre Wünsche redet und über ein freies und sicheres Afghanistan spricht".

Dass Frauen in Staaten mit muslimischer Mehrheit auch hohe Staatsämter ausüben können, dafür gibt es vor allem in Süd- und Südostasien mehrere Beispiele. Andererseits sind z. B. in Pakistan am Land noch immer die alten dörflichen Strukturen lebendig. Frauen haben hier wenig Rechte.

Koran als Basis für Demokratie?

ist es überhaupt möglich, dass sich auf der Basis des Islam eine Zivilgesellschaft entwickelt, dass der Koran etwa dafür die Grundlage bietet? Anzeichen sprechen dafür - wenn z. B. in Marokko die Polygamie per Gesetz abgeschafft wird, und dieses Gesetz eine lupenreine koranische Begründung durch die Ulama, die Korangelehrten, bekommen hat:

"Nicht der Islam oder der Koran ist das Problem, sondern die Interpretation des Islam", sagt Friedensnobelpreisträgerin Shirin Ebadi. Die Wurzeln dieser Interpretation, die wir heute sehen, lägen in der Vorherrschaft des Partriarchats, vor allem in den islamischen Ländern. Diese Form der Kultur verneine nicht nur die Gleichheit der Frauen, sondern auch Freiheit und Demokratie; in einer solchen Kultur herrschten alte Stammestraditionen, so Shirin Ebadi.

Euro-Islam in weiter Ferne

Es gibt nicht nur einen einzigen Islam - es gibt den Islam der Salafiten, der Fundamentalisten, einen liberalen Islam, den Islam der Sufis. Eine wichtige Vorfrage, die geklärt werden muss, ist daher der Status des Koran.

Der Sheik der Kairoer Al Azahr Universität, einer der wichtigsten Autoritäten der islamischen Welt, meint dazu, der Koran sei ein Buch der Wegweisung, und nicht ein Lehrbuch der Wissenschaft, er sei auch kein Handbuch für Demokratie und Zivilgesellschaft. Innerislamisch gehen darüber die Meinungen aber weit auseinander. Auch die Diskussion um die Zivilgesellschaft ist so vielgestaltig wie die möglichen Auslegungen des Koran und so vielgestaltig wie die Scharia. Dass es daher mindestens eine Generation dauern wird, bis es den proklamierten Euro-Islam geben wird, liegt nahe.

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