Gebrochener Blick auf den Trieb

Das Gedicht des Pornographen

Wer glaubt, im "Gedicht des Pornographen" lustvolle Unterhaltung zu finden, der irrt. Wer aber Lust hat, sich zwischen Tagebuch, Filmskript, Erzählung und Verhör zu bewegen, dem kann man Michael Turners Buch nur empfehlen.

Mit sechzehn mein erster Porno ... Statisches Knistern, leises Stöhnen. Ein paar "Oh" und ein paar scharf eingeatmete "Ah"

Nach diesem Beginn erwartet man Genitalien in literarischer Großaufnahme, Fleisch, das sich bewegt, Stöhnen - Details eben, ein Pars pro toto, die genitale Seite der Erotik, die den Trieb in den Vordergrund stellt, weniger das Begehren. Aber so ist das nicht. Nein. Der kanadische Bestseller-Autor Michael Turner ist diesem triebhaftem Blick gefolgt und hat in seinem Buch den Blick des Voyeurs in den Blick eines Anatomen verwandelt.

Erzählhaltungen

Neben der Geschichte einer verletzten Seele geht es vor allem - und das ist das eigentlich Interessante an diesem Buch - um Erzählhaltungen. Es geht um den gebrochenen Blick auf die Geschichte und auf ihren Trieb, der den Zusammenhang, die Beziehung der Figuren untereinander, aber auch die Beziehung zwischen Leser und Text immer wieder leugnen möchte. Turner greift daher zu diversen Genres und stellt sie nebeneinander.

Soll das Erregungspotenzial, das Figuren und Handlung durchaus haben - das Erzähler-Ich und sein rasantes Erwachsenwerden in Vancouver, die Erfahrungen mit dem Medium Film, das schillernde Mädchen Nettie, eine Art postmoderne Nymphe, all die Grenzüberschreitungen und Verführungen, der Sex, die Erotik - soll das alles, nur nicht zu sehr berühren? - Ja!

Für Distanz im Text sorgt zum Beispiel ein Frage- und Antwortspiel. Diese eindringliche Stimme, die den Erzähler bloßstellen will und die sagt: "Wir haben Grund zu der Annahme, dass du uns angelogen hast."

Der Autor als Psychoanalytiker

Vielleicht wollte Michael Turner auf diese Weise eine gleichschwebende Aufmerksamkeit erzeugen und so die Haltung des Psychoanalytikers einnehmen? Mitten in der Handlung, die voranschreitet - und gegen den literarischen Geständniszwang, den nun mal jeder hat, der schreibt.

"Wie Leute reden, wenn sie gefragt werden, was wirklich passiert ist und aufgenommen wird dabei, das interessiert mich", sagt Turner.

beschreibe Nettie !
fahr fort!
deine Beschreibungen könnten ruhig eine Spur lyrischer sein!


So heißt es in diesen Befragungen, eine von vielen Störstellen in diesem Buch, die den kreativen Prozess beim Schreiben preisgeben, den Kampf um die Wahrheit, das Ringen mit der Kritik.

Ohnmacht gegenüber dem Roman?

Oder wollte Turner den Spieß endlich umdrehen? Wollte er der Ohnmacht gegenüber dem Roman, nein, sogar gegenüber dem Entwicklungsroman auf den Zahn zu fühlen, um die Vorfahren, all die tonangebenden Stimmen, die es angeblich besser wissen, wie man so was schreibt, zu besiegen? Um dieses Machtgefälle im literarischen Experiment zu überwinden? Oder was genau bezeichnet das Verhör?

"Das sind alles Aspekte der Macht", antwortet Turner. "Eltern, Lehrer, Direktoren, Polizisten, Juristen, Psychiater. So kann man meine Zwischenfragen im Text als Auseinandersetzung mit dem Thema Macht lesen, mit denen ein junger Mensch konfrontiert ist."

Spuren einer Entzauberung

Wer also glaubt, im "Gedicht des Pornographen" kurzweilige Unterhaltung zu finden, der täuscht. Wer aber Lust hat, eigenen Assoziationen zu folgen und sich zwischen Tagebuch, Filmskript, Erzählung und Verhörsituation die Spuren einer Entzauberung zu sichern, der soll das Buch kaufen und sich nicht ernüchtern lassen - ein Porno ist das mit Sicherheit nicht!

Buch-Tipp
Michael Turner, "Das Gedicht des Pornographen", Liebeskind Verlag, ISBN 3935890281