Heiratspolitik made in China
Verehrte Prinzessin Wencheng
Dass Heiraten Gebiete vergrößert und Frieden sichert, war nicht erst den Habsburgern geläufig. Auch im alten China nutzte man die "Ehekarte", etwa im Jahr 641 n. Chr., als Prinzessin Wencheng den tibetischen Herrscher Songstan Gambo heiratete.
8. April 2017, 21:58
"Es war einmal vor tausenddreihundert Jahren", so könnte man beginnen, aber die Geschichte der schönen Prinzessin Wencheng, die jedem in Tibet geläufig ist - und fast jedem in China - ist kein Märchen. Und doch gehört ihre Geschichte zu den Stoffen, aus denen Märchen gewebt werden.
Werben um Wencheng
Wenchengs Geschichte beginnt im hohen Tibet, dem damaligen Königreich Tubo, das von seinem 32. Zanpu, so lautete der Titel des Herrschers, nach separatistischen Wirren wieder zu einem großen und starken Reich geeint wurde - mit Lhasa als neuer Hauptstadt. Songtsan Gambo, der heute noch hoch verehrt wird, legte großen Wert darauf, mit den benachbarten Völkern in gutem Einvernehmen zu leben und von ihnen zu lernen. Er wollte, dass sein Volk sesshaft würde. Und er ermunterte sein Volk, über die Grenzen hinaus zu heiraten. Er selbst ging mit gutem Beispiel voran und heiratete um 633 eine nepalesische Königstochter.
Im Jahr 640 sandte er seinen Premierminister Lu Tsongtsan als Brautwerber nach Chang'an, in die Hauptstadt des chinesischen Tang-Reiches. Die Legende erzählt, dass Lu Tsongtsan mit seinem 100 Mann starkem Gefolge, das eine sehr große Menge von Geschenken mitbrachte, an einem kalten Wintertag in Chang'an eintraf. Der Kaiser war sehr beeindruckt und sehr geneigt, der Bitte seines mächtigen Nachbarn nachzukommen, doch war die Kunde von der Heiratsfähigkeit seiner schönen 16 Jahre alten Tochter auch in andere Reiche gedrungen: Es waren noch zwölf andere Bewerber samt Entourage im Palast einquartiert. So ließ Kaiser Taizong verkünden, dass derjenige die Hand seiner Tochter erringen würde, dessen Abgesandte als erste fünf Aufgaben lösen würde.
Fünf Aufgaben gilt es zu lösen
Am ersten Tag erhielt jeder Proband eine Perle, in die ein kompliziert gezacktes und gekurvtes Loch gearbeitet worden war. Ein feiner silberner Draht sollte durch diese Perle gezogen werden. Lu Tsongtsan löste (als einziger) die Aufgabe, indem er an einem Ende Honig auf die Öffnung schmierte und am anderen Ende eine Ameise, der er jenen Draht um den Körper gebunden hatte, durch den Honiggeruch in die Perle lockte.
Am zweiten Tag sollten die Bewerber 100 Fohlen den richtigen Stuten zuordnen. Eine Kleinigkeit für Lu Tsongtsan: Er brachte die Stuten und die Fohlen in unterschiedliche Pferche, fütterte die Fohlen, gab ihnen aber kein Wasser. Am nächsten Morgen rasten die Fohlen zu ihren Müttern, um sich bei ihnen voll zu saufen. Auch diese Aufgabe hatte kein anderer gelöst.
Am dritten Tag mussten 100 für den Hausbau vorbereitete Balken geordnet werden. Die sahen alle gleich aus, waren aber auf der für das Dach bestimmten Seite leichter. Wieder siegte Lu Tsongtsan: Er ließ alle Balken in einen Teich werfen. Die leichte Seite zeigte nach oben.
Am vierten Tag mussten 100 Liter Wein und 100 Schafe verspeist und die Felle schön präpariert abgeliefert werden. Weil die andern alle mit dem Wein begonnen hatten und nur die Tibeter mit den Schaffellen, war wieder Lu Tsongtsan der Sieger.
Die letzte und schwerste Aufgabe war, aus 100 gleich gekleideten Mädchen die Prinzessin herauszufinden. Lu Tsongtsan, der ein sehr umgänglicher Mann war, wusste wieder als einziger, dass Wencheng einen kleinen Schönheitsfleck zwischen den Augen hatte.
Der Beginn einer wunderbaren Freundschaft
Am Abend vor ihrer Abreise sprach Wencheng, der nicht ganz wohl in ihrer Haut war, mit ihrem Vater. "Mein Herz zieht mit dem Regen, der die jungen Pflanzen nährt. Meine Hand führt den Pflug, der neue Äcker schafft. - Hast du nicht erst diese Verse gesungen? Dieses dein Gedicht hat mir gezeigt, dass du alleine die Fähigkeiten hast, zu einer Brücke zwischen unseren beiden Völkern zu werden, und dass du ihnen helfen kannst, sesshaft zu werden."
Und so brach Wencheng im Jänner 641 mit einem großen Gefolge, unter dem sich viele Handwerker, Techniker und Künstler befanden, in ihre neue Heimat auf. In ihrem Gepäck war neben ihrem persönlichem Hab und Gut alles zu finden, was der wirtschaftlichen und kulturellen Entwicklung ihres neuen Volkes dienlich sein konnte, angefangen von Samen und Setzlingen über Werkzeuge für Metallverarbeitung, Architektur, Tintenherstellung, Weberei, Stickerei usw., sowie Bücher jeder Art und religiöse Gegenstände - die Prinzessin war gläubige Buddhistin.
Als Wencheng Monate später in Tubo ankam, empfingen sie begeisterte Tibeter, die für sie sangen, die sie mit Leckerbissen versorgten und sie in ihren eigenen Kutschen oder Booten transportierten. Ihr Glück wurde vollkommen, als sie Songstan Gambo kennen lernte, denn der Zanpu war hübsch und jung: erst 25 Jahre alt. So lebten sie glücklich und zufrieden...
Heute noch werden die Statuen der beiden verehrt, und heute noch wird am 15. Tag des 4. tibetischen Monats die Ankunft von Wencheng gefeiert, und am 15. Tag des 10. tibetischen Monats ihr Geburtstag.
Buch-Tipp
Xinran, "Himmelsbegräbnis. Ein Buch für Shu Wen", Verlag Droemer, ISBN 3426273608