Keine Freundschaft fürs Leben
Böses Mädchen
In ihrem neuen Roman beschreibt Amélie Nothomb das Psychogramm einer Beziehung, einer skurrilen, aber dennoch glaubwürdigen Beziehung. Was als nette Mädchenfreundschaft beginnt, artet bald in ein Opfer-Peiniger-Verhältnis aus.
8. April 2017, 21:58
Ein Mädchen auf der Suche nach einer Freundin: Blanche studiert an der Universität Brüssel und lebt ein einzelgängerisches Leben. Freundschaften hat sie nie gesucht, bis sie Christa kennen lernt, eine Kommilitonin, die alles zu haben scheint, was Blanche nicht hat: Charme, Esprit, gutes Aussehen und jede Menge Bewunderer. Und so ist Blanche mehr als nur überrascht, als sich Christa plötzlich ausgerechnet ihr zuwendet.
Ob ich nun ihre Freundin war? Ich wusste es nicht. Welches zwangsläufig geheime Zeichen verrät, ob man jemandes Freundin ist? Ich hatte nie eine gehabt.
Sie hatte über mich gelacht. War das nun ein Zeichen der Freundschaft oder ein Zeichen der Verachtung? Es hatte mir wehgetan. Weil mir schon an ihr lag.
Opfer und/oder Peiniger
Amélie Nothomb beschreibt in ihrem neuesten Roman mit dem recht harmlosen Titel "Böses Mädchen" eine Freundschaft, die sich unvermittelt in das Gegenteil verkehrt. Nothomb schildert ein beängstigendes Szenario, in dem es um Macht und um Ohnmacht geht, um eine subtile Täter-Opfer-Beziehung unter dem harmlosen Deckmantel einer Mädchenfreundschaft.
Dabei sind Blanche und Christa für die Autorin nichts weiter als zwei Seiten derselben Medaille: "Man kann die Möglichkeit nicht ausschließen, dass es in uns einen unbewussten Teil gibt, der dafür sorgt, dass wir manchmal zum Peiniger werden. Wir wissen es immer, wenn wir die Opfer sind, aber wir wissen es nicht, wenn wir die Peiniger sind."
Schließlich aber ergreift Blanche die Initiative und wagt den Befreiungsschlag. Sie beginnt, Christa nachzuspionieren, in ihrem Heimatort und bei ihren Freunden, und sie entdeckt, dass Christa ganz und gar nicht diejenige ist, die sie zu sein vorgibt.
Eine absurd-bizarre Welt
Wie schon in ihren bisherigen Romanen beschreibt Amélie Nothomb auch diesmal das Psychogramm einer Beziehung, einer skurrilen, aber dennoch glaubwürdigen Beziehung. Und wie immer schöpft die Autorin aus Beobachtungen, aus eigenem Erleben und aus ihrer Fantasie und mischt daraus einen bittersüßen, literarischen Cocktail. Es ist ein sehr kurzer Roman, ein Buch von nicht einmal 150 Seiten, geschrieben vornehmlich in den Nachtstunden, wenn die Autorin wieder einmal von Schlaflosigkeit gepeinigt wird. Das Schreiben ist für Amélie Nothomb keine handwerkliche Tätigkeit und auch mehr als eine Möglichkeit, die Stunden der Schlaflosigkeit auszufüllen.
Dennoch wird Amélie Nothomb niemals banal oder oberflächlich. Hinter dem einfachen Satzbau, der minimierten Grammatik verbirgt sich auch in ihrem neuesten Roman eine absurd-bizarre und dennoch allzu nachvollziehbare Welt, in der der Leser auf intelligente Art in seine eigenen Abgründe geführt wird.
Man kann Amelie Nothombs Roman als ungewöhnliche Geschichte lesen, als beinahe kriminalistisches Psychogramm oder als literarisches Kammerstück, ihrer selbst definierten Verantwortung als Schriftstellerin wird die Autorin in jedem Fall gerecht: "Literatur ist viel mehr als nur Literatur. Literatur ist Zivilisation. Es gibt nichts Zivilisierteres als das Lesen. Wenn ich das vermitteln kann, denke ich, ist meine Verantwortung erfüllt."
Buch-Tipp
Amélie Nothomb, "Böses Mädchen", übersetzt von Brigitte Große, Diogenes Verlag, ISBN 3257064713