Ausdruck des Unaussprechlichen
Bla o Wakni
Seit einigen Jahren werden die Dörfer am Rio Coco, einem unzugänglichen Gebiet an der nicaraguanischen Karibikküste, von einem mysteriösen Phänomen heimgesucht, das die Betroffenen "Bla o Wakni" oder auch die "verrückte Krankheit" nennen.
8. April 2017, 21:58
Seit einigen Jahren werden die von Miskito, Mayangna und Mestizen bewohnten Dörfer am Rio Coco, einem unzugänglichen und unterentwickelten Gebiet an der nicaraguanischen Karibikküste, von einem mysteriösen Phänomen heimgesucht, das die Betroffenen "Bla o Wakni" oder auch "grisi sicknis", die "verrückte Krankheit" nennen.
Die Auslöser von "Bla o Wakni" sind unbekannt, doch sie springt von Dorf zu Dorf über, trifft vor allem junge Frauen, in geringerem Ausmaß auch Männer, beginnt mit starken Krämpfen und Visionen und mündet schließlich in wütenden Attacken, bei denen die Kranken ungeahnte Kräfte entwickeln und mit bloßen Händen Wände, ja ganze Häuser zertrümmern.
Die Kontrolle der Kranken und die Angst vor Ansteckung und neuen Attacken paralysiert ganze Dorfgemeinschaften, mit tiefen Folgen für die familiäre und sozioökonomische Stabilität. Nun hat erstmals eine multiethnische und multidisziplinäre Forschergruppe die betroffene Region besucht, um die Gründe und Hintergründe dieses Phänomens indigener Kultur zu untersuchen.
Ein psychisches Leiden?
Das sechsköpfige Team von einheimischen Lehrenden und Studierenden wurde von der Sozialwissenschafterin und Psychologin Gerhild Trübswasser aus Österreich begleitet, die verschiedene interkulturelle Forschungsprojekte im In- und Ausland beraten und begleitet hat und regelmäßig auch an der Universität Uraccan unterrichtet.
"Durch die Erhebungen wurde unsere Arbeitshypothese untermauert, dass es sich bei der Bla o Wakni um ein psychisches Leiden handelt, das in der Gesellschaft wurzelt und vermutlich in sozialen Drucksituationen verstärkt auftritt", erklärt Trübswasser.
Ewas läuft schief
"Aldo anda mal" - "Etwas läuft schief", so lautet auch der Titel der qualitativen sozialwissenschaftlichen Studie über "bla o wakni".
"Wir haben drei gesellschaftliche Problembereiche festgestellt, die das Zusammenleben in den betroffenen Gemeinschaften nachhaltig stören," fasst Gerhild Trübswasser die Forschungsergebnisse zusammen. "Erstens gibt es spürbare Spannungen zwischen den Älteren und den jungen Leuten, die das Leben im Dorf mit dem Leben in der Stadt vertauschen möchten, allerdings kaum eine Chance haben, diesen Traum zu realisieren."
"Eine zweite, ebenfalls wesentliche Ursache liegt nach unserer Ansicht im sexuellen Missbrauch, einem besonders stark tabuisierten Thema. Die Aussagen lassen darauf schließen, dass es endemischen Inzest gibt, dass Mädchen auch Kinder von ihren Vätern bekommen. Für die Opfer ist es unglaublich schwierig über Missbrauch und Vergewaltigung zu reden."
Folgen des Krieges
Die Dritte und nach Ansicht der Forscherteams gewichtigste Ursache der "grisi sicknis" liegt in der seelischen und physischen Erschütterung und Zerstörung, die die Menschen im Contra-Krieg erlebt haben.
"Ein Teil der Dorfbewohner wurde angeworben für die Contra, ein Teil war beim Sandinistischen Heer, ein Teil musst nach Honduras fliehen und ein Teil wurde von den Sandinisten zwangsweise in sicherere Dörfer im Landesinneren abgesiedelt. Sie durften nach sieben Jahren wieder zurück und nun leben diese vier Gruppen, die den Krieg so unterschiedliche erlebt haben, wieder in den 250 bis 300-Seelengemeinden zusammen. Jeder weiß, wer was getan, wer was erlitten hat. Man weiß z. B. der Nachbar meine Kinder umgebracht. Und über all das können sie natürlich nicht reden", sagt Gerhild Trübswasser.
Die Vorstellung, dass diese Situation zwischen Opfern und Tätern entschärft werden und es zumindest schrittweise eine Erleichterung geben kann, die von den traumatisierten Menschen so dringend benötig wird, ist derzeit kaum möglich. Doch genau das soll sich - auch unter mithilfe des engagierten Forscherteams - ändern.
Download-Tipp
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Buch-Tipps
Philip A Dennis, "The Miskitu People of Awastara", University of Texas Press, ISBN 0292702817
Isabel Pérez Chiriboga, "Espiritus de Vida y Muerte: Los Miskitu hondureños en época de guerra", Ed. Guaymuras, Tegucigalpa, ISBN 9992628170
Peter Hans Rupilius, "Grisi Siknis: Un caso de histeria colectiva en la RAAN. Interpretación de las causas", Enero, Documento fotocopiado
Links
Universität Uraccan
Gerhild Trübswasser
helixaustria.com