Auf Distanz

Wörterbuch

Jenny Erpenbecks neuer Roman spielt in einer Diktatur, irgendeiner Diktatur, die irgendwo auf der Welt sein könnte. Hauptfigur ist ein Mädchen, das unter der Obhut einer der Folterknechte aufwächst. Eines Tages konfrontiert er sie mit der Wahrheit.

Nein, das Buch meine nicht die DDR. Nein, es sei auch keine Abrechnung mit irgendjemandem aus ihrer Familie bekannter Künstler und Intellektueller in der DDR. Und schon gar nicht mit dem geliebten Vater, dem Jenny Erpenbeck, um jeder Verdächtigung vorzubeugen, das "Wörterbuch" von Herzen gewidmet hat. Das nur, um erst einmal die wichtigsten Fragen am Anfang zu klären.

Die 37-jährige Autorin bleibt freundlich. Es ist das erste Gespräch über ihren zweiten Roman, und da muss auch die Urheberin erst so manches ins Bewusstsein heben. Schreiben tut man mit dem Bauch, sagt sie. Zum Interview-Geben muss man die Ebene wechseln.

Die Wahrheit ist ein Wurm

Das "Wörterbuch" handelt vom Leben unter der Diktatur. Einer namenlosen Diktatur, in der wie zum Spott der Gefolterten und Unterdrückten, immer die Sonne scheint. Vielleicht Argentinien, schlägt Jenny Erpenbeck vor. Könnte aber auch woanders sein.

Hauptfigur ist ein Mädchen, das unter der Obhut einer der Folterknechte aufwächst. Er liebt sie, weil sie noch rein und formbar ist, keine falschen Gedanken denkt. Sie ahnt, womit er sich außer Haus beschäftigt, in der Schule gibt es Gerüchte, aber sie wagt nicht, es genau zu wissen.

Zum Schluss, die Diktatur ist offenbar gestürzt, konfrontiert der Vater sie mit der Wahrheit: Er ist nicht ihr Vater, er hat sie nur adoptiert. Die richtigen Eltern sind tot. Und beruflich war es seine Aufgabe, den Leuten Geständnisse zu entlocken. Auch über seine Methoden lässt er die inzwischen 17-Jährige nicht im Unklaren: Schläge, Amputationen, Elektroschocks. Das Mädchen repetiert brav: "Die Wahrheit kommt also, wenn man einen Körper an einen Stromkreis anschließt, aus dem Körper heraus wie ein Wurm."

Identitätsverlust nach der Diktatur

"Immer wenn der Körper verletzt wird, kommt ein Stück weit der widerspenstige Geist zum Vorschein.", sagt das Kind zum Vater, wie zum Beweis dafür, dass es seine Lektion gelernt hat. Aber die Worte haben keine Bedeutung mehr, das Mädchen fühlt nicht, wovon es spricht. Es hat seinen Geist aufgegeben und wird nun warten, bis der Vater wieder aus dem Gefängnis kommt, um mit ihm weiterzuleben. An dieser Stelle kommt nun - entgegen früherer Ankündigungen - doch die DDR ins Spiel. Denn die egal von welcher Diktatur Befreiten leiden offenbar unter einem Identitätsverlust.

"Ich bin für mich drauf gekommen, dass man mit diesem grundsätzlichen Verlust nicht gut zurechtkommt, egal, ob die bekannten Dinge gut oder schlecht sind", meint Jenny Erpenbeck. "Das ganze bekannte System, alles was man kannte, es ist alles weg. Das löst einfach Depressionen aus oder einen Bruch, der nicht so einfach wieder zu kitten ist."

Jenny Erpenbeck ist eine begnadete Wortdrechslerin, und um die Qualitäten dieses schmalen, geheimnisvollen "Wörterbuchs" genießen zu könne, sollte man es bei sowohl innerer als auch äußerlich schummriger Beleuchtung lesen, denn es raunt und alpträumt gehörig aus diesem Buch. Aber dieser Roman leidet auch unter seinen Qualitäten: zu viel Kunst, zu wenig Deutlichkeit. Literatur handelt nicht von Literatur, Literatur handelt vom Leben. Aber mit dem "Wörterbuch" geht Jenny Erpenbeck auf Distanz zum Leben.

Buch-Tipp
Jenny Erpenbeck, "Wörterbuch", Eichborn Verlag, ISBN 3821807423