Aufzeichnungen November 1987 bis Juli 1990

Gestern unterwegs

Wie so viele Schriftsteller führt auch Peter Handke meist Notizbücher, Notizhefte, Notizblöcke mit sich. Darin notiert er Beobachtungen, Einfälle und alltägliche Begebnisse und was sich sonst vom Wegesrand auflesen und in Worte verwandeln lässt.

Handkes Notizen aus den Jahren 1987 bis 1990, genau gesagt, von November 87 bis Juli 90, sind nun in ihrer ursprünglichen, rohen Form als Buch erschienen. Die Aufzeichnungen lassen interessante und oft überraschende Rückschlüsse auf Handkes Arbeitsweise zu: auf die langsame, von vielen Veränderungen, Umstellungen, Revisionen, von Wegen und Umwegen geprägte Entstehung seiner Werke.


Texte, geformt wie Landschaften

Handke, so ist diesen Aufzeichnungen zu entnehmen, schreibt seine Bücher nicht einfach. Romane und Theaterstücke formen sich, vergleichbar mit Landschaften, die den Kräften der Erosion ausgesetzt sind: den formenden Einflüssen von Wind und Regen, von Eis und Schnee, von trockener Hitze oder Überschwemmung. Und das über Jahrtausende hinweg.

Nun gut, Jahrtausende dauert es bei Handke nicht, aber doch oft lang. Schon in den Aufzeichnungen aus den frühen 90er Jahren finden sich etwa erste Notizen zu seinem Don-Juan-Buch, das schließlich 2005 erschien. Eigentlich arbeitete er in jenem Zeitraum an einem Großprojekt mit dem Arbeitstitel "Der Bilderverlust". Aus dem Material dazu wurden schließlich, im Lauf der folgenden 15 Jahre, zwei Bücher: "Mein Jahr in der Niemandsbucht" und eben "Der Bilderverlust".

Italien: das zeremonielle Tragen des Wechselgeldes durch die Kellner, zwischen Daumen und Zeigefinger, beide erhoben und vom Träger weggestreckt. Manche Italiener schwingen im Gehen ihre Zahnstocher wie Spazierstöckchen.

Die Zeit des Reisens

Im Zeitraum der Aufzeichnungen selbst, November 87 bis Juli 1990, erschienen fünf "offizielle" Veröffentlichungen Handkes: das Theaterstück "Das Spiel vom Fragen", der "Versuch über die Müdigkeit", das Filmbuch "Die Abwesenheit" und der "Versuch über die Jukebox". Zuletzt präsentierte der Schriftsteller noch seine Übersetzung von William Shakespeares "A Winter's Tale".

Handke war in dieser Zeit viel unterwegs. Die zweieinhalb Jahre waren die letzten seines jugendlichen "Nomadentums": Kärnten, Jugoslawien, vor allem dessen adriatische Küste, Griechenland, Frankreich, Spanien, Belgien, Italien, die britischen Inseln, wieder Österreich...

Mein Heimatort war vollkommen leer. Aus einer fahlen Wolkendecke schneite es. Ich ging, in ein Leintuch gehüllt, durch den lautlosen, ausgestorbenen Ort. Im Gasthof traf ich dann doch auf ein paar Arme und Beine.

Zweite Heimat Paris

Erst gegen Ende des Buchs häufen sich die Aufzeichnungen aus Paris, jener Stadt, in der sich Handke ab dem Sommer 1990 für eine Zeitlang fest niederließ.

Die schöne, erfahrene Frau sagte gestern: "Ich bin nur auf mich aus. Der Mann kann ja selbst sehen, wie er zu seinem Recht kommt." Und dann, von ihrer großen Liebe: "Er war der erste Mann, der mich hat träumen lassen."

Thema Nummer eins

Das Themenspektrum dieser Aufzeichnungen ist kaum eingrenzbar. Alte, vertrocknete Baguettte-Stücke auf einer Jukebox erregen das Interesse des Dichters ebenso, wie die beiden ewigen Themen: erstens Liebe...

Wenn die Frauen schneller atmen, heißt das, ihre Seelen kommen mir entgegen.

...und zweitens: der Tod.

Gelänge mir eine beständige Todesverachtung, würde ich endlich frei heraus leben können.

Und Handke wäre kein Österreicher, und später auch kein Wahlfranzose geworden, wäre es nicht besonders die Kombination von Liebe und Tod, die ihn inspiriert.

Seit er sie kannte, dachte er nicht mehr an Tod.

Buch-Tipp
Peter Handke "Gestern unterwegs. Aufzeichnungen November 1987 bis Juli 1990", Jung und Jung Verlag, ISBN 3902144998