Durch alte Werte zu neuem Selbstbewusstsein
Ureinwohner-Boom auf Taiwan
Zwei Prozent der Bevölkerung machen die Ureinwohner Taiwans aus, die schon lange vor den Chinesen da waren. Nach Jahrzehnte langer Unterdrückung erleben sie jetzt einen Boom. Hintergrund: die Betonung der eigenständigen Traditionen im Konflikt mit Peking.
8. April 2017, 21:58
Ein Besuch im Kulturdorf San Ti Men
Nach dem Sieg der chinesischen Kommunisten auf dem Festland im Jahr 1949 hat sich die Nationalregierung auf die Insel Taiwan geflüchtet, um von dort aus eines Tages ganz China wieder zurückzuerobern. Davon ist schon lange nicht mehr die Rede; inzwischen droht Peking regelmäßig mit einer Militärinvasion, sollte sich Taiwan nicht den Wünschen nach Wiedervereinigung beugen oder gar nach völkerrechtlicher Unabhängigkeit streben.
Seit dem Jahr 2000 regiert nun in Taiwan die Demokratische Fortschrittspartei unter Präsident Chen Shui-bian. Sie will zumindest die eigenen Traditionen Taiwans wieder stärker in den Vordergrund stellen. Vor allem der taiwanesischen Urbevölkerung, die derzeit etwa zwei Prozent der etwa 22 Millionen Tai-Chinesen ausmacht, wird eine neue Partnerschaft in Aussicht gestellt.
Die Autonomiebestrebungen im Detail
Autonomie für die Ureinwohner, die Rückgabe des traditionellen Lebensraumes und die Wiederherstellung der ursprünglichen Namen der Dörfer und Wohngebiete in den Sprachen der Ureinwohner: das sind die Kernpunkte des taiwanesischen Regierungsprogramms:
Vor zwanzig Jahren war sicher noch eine schlimme Diskriminierung zu spüren. Aber inzwischen haben wir für die Ureinwohner wichtige Verbesserungen erkämpft", betont Vizeminister Pasuya Poitsonu. Das hat sich auch auf ihre Zahl ausgewirkt: Vor ein paar Jahren noch bekannten sich etwa 330.000 Menschen als Ureinwohner, heute sind es 450.000. Viele Ureinwohner bekennen sich heute offen zu ihrer Identität, weil damit auch spezielle Förderungen verbunden sind, etwa bei Studienplätzen, oder bei Bankkrediten für Unternehmen oder für einen Hauskauf: Die materiellen Vorteile sind zwar ein wichtiger Grund für jenes neue Selbstbewusstsein, der wichtigste jedoch ist, dass Taiwan heute auch offiziell eine multi-ethnische Gesellschaft ist, sagt Pasuya Poitsonu.
Das Museumsdorf San Ti Men
In den letzten Jahren ist es in Taiwan auch geradezu modern geworden, sich für die Ureinwohner zu interessieren. Ihre Lieder werden als Popsongs vermarktet, immer mehr Ausstellungen und Publikationen beschäftigen sich mit ihrer Geschichte und Kultur, und die offizielle Fremdenverkehrswerbung der Insel hat "Naruwan" - den Willkommensgruß der Ureinwohner - sogar zu ihrem Motto gewählt.
In San Ti Men an der Südspitze der Insel, hat die Regierung vor einigen Jahren ein Freilichtmuseum einrichten lassen, das Architektur, Gebräuche und Lebensformen der taiwanesischen Ureinwohner zeigt. In einer überdachten Arena bieten Folkloregruppen Lieder und Tanzvorführungen. Ein paar tausend Besucher kommen jeden Tag in das "Kulturdorf", wie es offiziell heißt; 450.000 sind es im Jahr: Das Wissen um die Urbevölkerung habe sich nicht zuletzt dadurch sehr gebessert, sagt Woyu, ein Angehöriger des Tsou-Volkes, der für die täglichen Veranstaltungen in dem Museumsdorf mit verantwortlich ist.
Triste Wirtschaftslage
Offiziell werden heute zwölf verschiedene Volksgruppen gezählt, die über die gesamte Insel Taiwan verstreut leben und vor allem im bergigen Landesinneren zuhause sind. Die wirtschaftliche Lage der Ureinwohner ist daher nicht gut. Der Lebensstandard ist niederiger als sonst in Taiwain, und die Ureinwohner finden viel schwerer Arbeit.
Ein Grund dafür ist, dass sich der Staat viele Ressourcen im Gebiet der Ureinwohner angeeignet hat: den Wald, die Flussläufe, die Bodenschätze. Und die Ureinwohner bleiben im Allgemeinen von der Nutzung ausgeschlossen. Ein weiterer Grund sei die Ausbildung - so Yassa Lebin, die Schuldirektorin der Ortschaft Datung im Nordosten der Insel, wo zwei Drittel der Bevölkerung vom Tayal-Volk stammen:
"Eine fundierte Ausbildung fehlt. Nur wenige Ureinwohner finden einfache manuelle Arbeit, zum Beispiel auf Baustellen oder in Fabriken. Aber viele Produktionsstätten wurden nach China oder Südostasien ausgelagert. Und die Betriebe, die da geblieben sind, haben immer mehr Gastarbeiter aus den Philippinen oder Vietnam. Auf diesem Arbeitsmarkt finden unsere Leute immer weniger Chancen, sodass jetzt wieder viele in die Dörfer zurückkommen und ein eher traditionelles Leben führen.
Neues Selbstbewusstsein
Hayung Wenchi, Bezirkschef in Datung, fühlt sich noch in der Tradition seiner Volksgruppe zuhause und ist sehr stolz darauf, Angehöriger des Tayal-Volkes zu sein: "Tayal sind sehr verantwortungsbewusst und eher konservativ. Wir nehmen die Dinge ernst. Und wir sind es gewohnt, Probleme gemeinsam zu lösen. Wir tragen im Kollektiv die Verantwortung für das, was wir machen. Und jeder kann daraus seinen Nutzen ziehen. Dass ist auch der Grund für dieses starke Zusammengehörigkeitsgefühl in den Dörfern der Tayal.
Hayung Wenchi macht sich aber auch Sorgen, dass sich vor allem die jungen Leute im Spannungsfeld zwischen Tradition und modernem Leben für die chinesisch dominierte Welt in den Städten entscheiden. Diesem Trend - so der Bezirkschef - gelte es vor allem in den Schulen entgegenzuwirken.
Allgemeine Kultur- und Spracherziehung
Die Schuldirektorin Yassa Lebin widmet im Rahmen der allgemeinen Kulturerziehung vor allem der Sprachschulung besonderes Augenmerk. Jede Woche wird eine Stunde Tayal unterrichtet:
"Wir versuchen den Kindern zu lehren, dass nicht alles Traditionelle schlecht ist, dass das Wissen um die kulturellen Wurzeln sehr wichtig für die eigene Entwicklung ist. So haben viele Tayal erst im Laufe der Zeit auch die positiven Seiten der eigenen Tradition entdeckt".
Christlicher Glaube und Ahnenkult
Nominell sind fast alle Ureinwohner Taiwans Christen, doch die überwiegend europäischen und amerikanischen Missionare, die den damaligen Kopfjägern in den Wäldern im 19. Jahrhundert die ersten Kontakte zur "Modernen Welt verschafften, haben versucht, den traditionellen Ahnenglauben in die christlichen Vorstellungen zu integrieren. Yassa Lebin dazu:
"In ihrer Kultur glauben die Tayal, dass die Seelen der Ahnen sich weiter um die Lebenden kümmern. Daher muss man Respekt und Ehrerbietung vor den Ahnen zeigen. Als die westliche Religion zu uns kam, haben wir entdeckt, dass unsere traditionellen Werte, unser Glaube an die Seelen der Vorfahren, gar nicht so anders sind als die Lehren aus der Bibel. Wenn wir also, so wie uns die Eltern lehren, keine schlechten Dinge tun, dann werden sich auch die Ahnen um unsere Seelen kümmern. So wie sich ja auch der liebe Gott um uns sorgt und uns dann ein gutes Leben ohne große Sorgen schenkt.
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Wikipedia - Taiwan