Das Elend der Welt
Bourdieu und seine Erben
Pierre Bourdieu war Philosoph. Er war aber auch ein Mann der Feldforschung. Er wollte seine philosophischen Überlegungen über das soziale Handeln empirisch überprüfen. Das macht den Franzosen Pierre Bourdieu so außergewöhnlich.
8. April 2017, 21:58
Der im Jahr 2002 in Paris verstorbene Star-Philosoph Pierre Bourdieu schaffte, was kein Wissenschafter vor ihm erreicht hatte. Er machte einen soziologischen 1.000-Seiten-Schmöker - die erste grundlegende Sozialrecherche Frankreichs- zum Bestseller.
Bourdieus Studie "Das Elend der Welt" war eine aufrüttelnde Gesellschaftsdiagnose im Frankreich des aufkeimenden Neoliberalismus. Das Buch wurde im ersten Jahr 1993 gleich 100.000 mal verkauft. Der Philosoph hatte damit den Nerv einer Gesellschaft getroffen.
Er ließ Menschen, denen sonst keiner zuhörte, über ihre Leiden im Alltag berichten. Diese Art der soziologischen Feldforschung hat mittlerweile ihre Bestätigung sowohl in Frankreich als auch in anderen Ländern gefunden. Bourdieu inspirierte mit seinem "verstehenden Ansatz" einen ganzen Wissenschaftszweig.
Grazer "Erben"
Grazer Kulturanthropologen griffen seine Theorien auf und schrieben über "Das ganz alltägliche Elend. Begegnungen im Schatten des Neoliberalismus". Wie der Franzose setzten die Grazer Forscher nicht bei der materiellen Armut, sondern beim gesellschaftlichen Leiden durch den Neoliberalismus an, beim Verlust sozialer Gewissheiten.
"Für nicht gelingendes Leben ist jeder selbst verantwortlich" - mit dieser fatalen, neoliberalen Maxime gab sich Bourdieu nie zufrieden. Er entlarvte die Systeme, in die Sieger und Verlierer hineingeboren werden.
In "Die feinen Unterschiede zeichnete er ein Bild von den Eliten, von ihrem "Habitus und von den Strategien der "Distinktion, mit denen sie sich von der Mittelschicht abheben. Bourdieu kannte alle Tricks der Oberschicht.
Er strafte den Optimismus der Bildungsbürger als "Bildungsillusionismus Lügen: den Aufstieg dank eigener Leistung schaffen nur die wenigsten. Die Elitenetzwerke können nicht durch Bildung ersetzt werden. Er selbst war allerdings, als Sohn eines Postbeamten am Land, das beste Beispiel, dass es doch möglich ist.
Bourdieu als Ratgeber
Für den Linzer Philosophen Gerhard Fröhlich waren Bourdieus Ideen von großem Einfluss und sogar eine Art Ratgeber. Fröhlich ist heute in Österreich einer der besten Kenner des Werkes Bourdieus. Er hat die Homepage "HyperBourdieu aufgebaut, die Aufsätze, Bücher, Vorträge des französischen Philosophen online stellt.
Der Erbhalter
Der Bourdieu-Erbhalter Franz Schultheis in Genf arbeitet derzeit an einer Elendsstudie in Deutschland. Schultheis hat aber, anders als Bourdieu, die Frage der Arbeitslosigkeit in Deutschland intensiv unter die Lupe genommen- Menschen, die immer wieder vorgeführt bekommen, dass sie keinen Platz in der Gesellschaft haben. Es geht darum, die Zwänge, die Erniedrigung und den Druck, dem diese Menschen tagtäglich ausgesetzt sind, aufzuzeigen.
Die Eliten, der "Habitus, das "Ritual, "das soziale Feld, "die männliche Herrschaft- all diese Forschungsthemen wären ohne Bourdieus Theorien heute undenkbar.
Und schließlich ist seit Bourdieus "raison d'agir (Grund zu Handeln) die Rolle, die die Wissenschafter zu übernehmen haben, klar definiert: ihre Aufgabe ist es, mit ihrer Kompetenz in die Politik einzugreifen und "Gegenfeuer gegen Menschenrechtsverletzungen, Rassismus oder Ausbeutung zu liefern. Bourdieu sprach sogar von "unterlassener Hilfeleistung, wenn Wissenschafter schweigen
Hör-Tipp
Salzburger Nachtstudio, MIttwoch, 13. September 2006, 21:01 Uhr
Download-Tipp
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Buch-Tipps
Pierre Bourdieu u.a., "Das Elend der Welt", Universitätsverlag Konstanz 1997, ISBN 3896698672
Pierre Bourdieu, "Die feinen Unterschiede,Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft", übersetzt von Bernd Schwibs und Achim Russer, Suhrkamp, ISBN 3518067435
Pierre Bourdieu, "Die männliche Herrschaft", aus dem Französischen von Jürgen Bolder, Suhrkamp, ISBN 3518584359
Elisabeth Katschnig-Fasch (Hg), "Das ganz alltägliche Elend. Begegnungen im Schatten des Neoliberalismus", Löcker Verlag, ISBN 3854093837
Franz Schultheis, Kristina Schulz (Hg), "Gesellschaft mit beschränkter Haftung", UVK Verlag 2005
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Pierre Bourdieu